Die audio-visuelle Anthropologie (gemeint ist wissenschaftliches Arbeiten über und mit Bild und Ton) hat sich innerhalb der Ethnologie zu einer Trenddisziplin entwickelt. Obwohl oder gerade weil sich Blogs, Seminare, Festivals, Sommerschulen und ganze Masterprogramme auf das Thema konzentrieren, ist die audio-visuelle Anthropologie einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt und muss darum ringen als wissenschaftliches Arbeiten anerkannt zu werden. Dabei geht es um die Frage, warum Film und nicht Text. Der audio-visuellen Anthropologie wird Euphorie und Skepsis entgegengebracht, was ihr nur helfen kann bewusster mit Bild und Ton umzugehen. In diesem Sinn habe ich mich gefragt, was gegen das Präsentieren ethnologischer Arbeiten in Form von Audiovisionen spricht. Ich freue mich auf jeden Fall auf Kommentare, Links, Beispiele, Fragen und Kritik unter diesen Blogbeitrag und hoffe, dass er noch wächst.
Ich habe zwei Beispiele vom Berlin Documentary Forum I, um besser verständlich zu machen, um was es mir geht. Weiter unten werde ich dann genereller und trage mehr oder weniger sortiert ein paar Gedanken zum Thema zusammen.
Beispiel 1: Der inszenierende Edgar Morin
Die Künstler Ayreen Anastas, Rene Gabri (Kurz CV) und Francois Bucher stellten auf dem Berlin Documentary Forum I ihre filmische Wiederauferstehung von Chronicles of a Summer von Edgar Morin und Jean Rouch vor. Sie haben Material, was Morin und Rouch im Film selbst nicht verwendetet haben, in Archiven gefunden und wieder in den Film eingefügt und damit sozusagen ein full-footage von Chronicles of a Summer hergestellt. In der restaurierten Abschlussdiskussion der ProtagonisInnen in einem Pariser Kino, die auch den originalen Film abschließt, kritisiert ein Mädchen Edgar Morin. Sie sagt, er habe in der Szene in der alle beim Abendessen zusammen sitzen und diskutieren, vorgegeben, was sie sagen sollten. Edgar Morin antworte darauf in etwa, dass er an dieser Stelle wahrscheinlich etwas zu sehr ‚den Rahmen vorgegeben‘ habe. Dieser Dialog taucht, obwohl er für einen selbstreflexiven Film durchaus relevant ist, in Chronicles of a Summer, nicht auf.
Sind die selektiven Eingriffe in Film einfach zu schwerwiegend, um einer Filmaussage trauen zu können und wenn ja woran liegt das? Kann im Film zu viel verheimlicht, manipuliert und verdeckt werden? Ist Text eine dichtere und sichere Basis für wissenschaftliches Arbeiten?
Beispiel 2: Frederick Wiseman liest nicht, worüber er filmt.
Es ist nichts neues, dass Frederick Wiseman von sich sagt, keine explizit politischenFilme zu machen. Wer Titticut Follys gesehen hat, mag vielleicht glauben, dass Wiseman Überwachen und Strafen von Michel Foucault oder Ähnliches gelesen hat, um diesen Film zu machen. Aber: im Gespräch nach dem Screening von Primate wurde klar, dass dem nicht so ist. Eyal Sivan fragte Frederik Wiseman nach Michel Foucault und erhielt in etwa die Antwort, dass er versucht habe Foucault zu lesen, er aber nicht das Gefühl hatte es gut zu verstehen und es sein lies. Im nächsten Satz sagte Wiseman über Erving Goffman, dass er so schlecht schreibe, dass er auch seine Bücher sein lies. Frederick Wiseman verkündete Chroniken eines Sommers nie gesehen zu haben und kommentierte das mit: „Is that a crime?“.
Mit seinem Pragmatismus brachte Frederick Wiseman die Hälfte der versammelten Intellektuellen zum Lachen und die andere Hälfte stieß er mächtig vor den Kopf.
Ich fragte mich danach, ob die ganze Sozialkritik in Wisemans Filmen, nur eine von vielen Lesarten und nicht definitiv im Film angelegt sei. (Zu seiner Zeit waren Wisemans Filme kaum kritisch.) Ist es möglich ethnologisch wertvolle Filme ohne große Forschung zu machen? Verlieren die Filme von Wiseman dadurch an Wert, dass sie von einem Filmhandwerker und nicht von einem theoretisch und methodisch ausgebildeten Ethnologen gemacht wurden? Und überhaupt: wie kann ethnologisches Wissen in Filme eingebracht werden? Ist das der Grund, warum Text besser geeignet ist, weil er streitbar ist und Missinterpretationen in peniblen wissenschaftlichen Grabenkriegen diskutiert werden?
Gedankensammlung zur audio-visuellen Anthropologie
Sind die beiden Filme oben, als ethnologische oder wissenschaftliche Filme gescheitert, obwohl sie zu den Dinosauriern der Filmgeschichte zählen? Kann das überhaupt sein, oder sind die Ansprüche an ethnologischen Film falsch gesetzt? Zu allem Überfluss gibt es noch mehr Ärger mit den Bildern, der es Film schwer macht einen Platz im wissenschaftlichen Arbeitsprozess zu finden, damit meine ich den Austausch von Wissen unter WissenschaftlerInnen und auch mit einem Publikum. Dafür gibt es gute und weniger gute Gründe:
- Film und Video sind zu wenig statisch: 24 bzw. 25 Bilder rasen pro Sekunde an den Augen vorbei ohne, dass sich das Publikum eine wichtige Stelle markieren kann, wie es in jedem Buch möglich ist. Dabei bleibt wenig Zeit zum innehalten um Inhalte aufzunehmen.
- Ein Film lässt sich schwierig zitieren und damit schwierig diskutieren. Wie könnte eine Aussage eines Filmes in einem anderen Film ergänzt oder angegriffen werden? Kann filmisch überhaupt eine Diskussion, oder ein Diskurs geführt werden?
- Mit Film wird in der Ethnologie noch nicht entsprechend wissenschaftlich umgegangen, wie mit Text. Als Beispiel eine Selbstbeobachtung: noch bevor der Film beginnt wird es dunkel und ich verrenke mich auf meinem Sitz, versuche meine Zettel etwas in Richtung der Leinwand zu drehen damit von ihr etwas Licht zum Notieren auf meine Blätter fällt. Schließlich sehe ich einen Film auf einem Festival vermutlich nur einmal und vertraue meinen (Bild)-gedächtnis nur eingeschränkt. Das dabei entstehende Gekritzel kann ich nachher kaum noch entziffern. Was ich mit dieser verknoteten Metapher sagen möchte ist: „lasst das Licht an“, denn Audiovisionen, im wissenschaftlichen Kontext, müssen genauso akribisch zerlegt werden, wie Texte. Beim einmaligen Betrachten eines Films bleibt wahrscheinlich genauso viel hängen, wie beim schnellen Überfliegen eines Texts in der S-Bahn. Film verstehen heißt Film zerlegen. Beim Rezipieren gehören Filme auf den Seziertisch, dessen Instrumente sich die audio-visuelle Anthropologie entweder bauen, oder klauen muss (aus der Film- und Medienwissenschaft?).
- Die wirklich relevanten Themen sind nicht einfach spannende Verfilmungen von ‚exotischen‘ Thesen, sondern die Erkenntnisse die durch die Bearbeitung eines Themas mit Bild und Ton entstehen. Zum Beispiel sind das Fragen der Repräsentation und Darstellung. Wie kann ich mit einer Kamera losziehen und zu Rassismen filmen, ohne dabei automatisch in rassistische Muster und Denkschienen zu verfallen? Wie sind Rassismen zufilmen, ohne mit der Kamera Jagd auf Andersaussehende zu machen? In einer Welt in der Wissen zu großen Teilen audiovisuell vermittelt wird (Bild und Ton in Wissenschaft, Technik, Werbung, Freizeit…), sind solche Fragen wichtige Schnittstellen zwischen ethnologischem Inhalt und audiovisueller Form.
- Mit Bildern des Fremden und des Eigenen wird ungleich umgegangen. Seit einiger Zeit laufen große Debatten zu den Themen ‚Rechte am eigenen Bild‘, ‚Recht auf informationelle Selbstbestimmung‘ und ‚Datensicherheit‘. Wer sich dieser Dinge bewusst ist, wird sehr genau achten, welche privaten Informationen er von sich selbst in sozialen Netzwerken im Internet veröffentlicht. Mit Rücksicht darauf werden in wissenschaftlichen Texten (z.B. Ethnografien), wenn nötig, InformantInnen anonymisiert. Auf der Suche nach Nähe zu einem Protagonisten, die aus einem noch nicht geklärten Grund oft als Ziel ethnologischer Filme gilt, besteht die Gefahr diese Rechte zu verletzten. Auch im Film haben Menschen ein Recht darauf ihre Persönlichkeit vor dem Zugriff eines unbekannten Publikums in unbekannten und unvorhersehbaren Rezeptionssituationen zu schützen. Das gilt besonders, wenn Bilder zwischen Kulturen bewegt werden. Eine klassisch-kritische Debatte innerhalb der visuellen Ethnologie ist die Frage, ob Bilder von Frauen, für die es nicht schamhaft ist oben unbekleidet zu sein, ohne weiteres in Europa gezeigt werden sollten.
- Film wird zu stark als Endprodukt verstanden. Film ist zum geringsten Teil Licht, was von einem Projektor auf eine Leinwand fällt, Film ist was vor- und nachher geschieht. Der Beitrag den ein Film zu einem Thema leisten kann wird minimiert, wenn der Produktionsprozess (Drehbedingungen, Entscheidungen in Dramaturgie, Schnitt, Szenenauswahl, Auswahl der Aussagen nicht zu diskutieren etc.) und der Rezeptionsprozess (Kontextwissen, Filmgeschichte, Filmanalyse etc.) nicht als Teil des Films verstanden werden.
- „Viele Filme ‚funktionieren‘ einfach nicht, sie sind nicht ‚gut‘.“ Mit solchen Aussagen ist gemeint, dass ein Film nicht spannend ist oder er ‚komisch‘ wirkt, weil wir ihn nicht intuitiv als angenehmes/verstehbares Seherlebnis empfinden. Dieser Umgang mit Film ist problematisch, wenn lediglich der Unterhaltungswert des Films aus einer Konsumentenperspektive beurteilt wird. Wissenschaftliche Texte werden im Idealfall auch nicht nach ihrem Funktionieren oder Unterhalten bewertet.
Gibt es ein Fazit?
Selbst wenn die Argumentation Text sei streitbarer, expliziter, fokussierter und langlebiger und erlaube bessere theoretische Entfaltung als Film (was ich nicht glaube), ist es kein Weg die Bedeutung von Audiovisionen für die Gegenwart zu ignorieren. Wahrscheinlich hat jede Veränderung von Medien- und Kommunikationsgewohnheiten bei KritikerInnen Bedenken hervorgerufen. In der Lesesucht-Debatte des 18. Jahrhunderts wurde hinlänglich bekannt, dass Bücherlesen eine extreme Form des Eskapismus ist und die Lesekranken den Bezug zur realen Welt verlieren, wenn sie in die Welt der Drucklettern eintauchen. Platon kritisierte an der Schrift, sie trockne das Gedächtnis aus, weil sie die Tugend des Auswendiglernens unterwandere. Malerei zerstört die Phantasie, Fotografie zerstört die Malerei, der Spielfilm vernichtet das Theaterstück und SMS machen konversationsimpotent. Diese Erkenntnisse ziehe ich als Sicherheit heran, um zu behaupten, dass es nicht um eine Frage des Informationsträgers (Papier, miniDV oder Festplatte) geht, sondern um Kompetenzen im Umgang mit ihnen. Bilder und Ton pauschal ablehnen, weil sie irgendwie anders sind als Text, halte ich für eine bildungsresistente Haltung, die einer Geisteswissenschaft nicht steht. In diesem Sinne ist es erfrischender sich nach Gilles Deleuze einen Filmemacher als einen Philosophen vorzustellen, der mit Bildern und Tönen denkt. Der Druck, der auf audio-visueller Anthropologie lastet, rüht auch daher, dass audio-visuelle Rezeptionskompetenzen gegenüber einer ausgereiften wissenschaftlichen Schriftkultur schlicht aufgeholt werden müssen: sprachliche Stilfiguren sind Schulstoff, Paralellmontagen nicht.
Das Anliegen dieses Blogbeitrags in einem Satz, denke ich, lautet: audio-visuelle Anthropologie muss, um sich qualitativ entfalten zu können, den impressionistischen Wert von Filmen, jedes Genres, den auch Literatur hat, als Beitrag für Wissenschaft aufnehmen und gleichzeitig die theoretischen, analytischen und diskursiven Kompetenzen im Umgang mit Audiovisionen ausbauen.
Jasmin Weinert
Friedemann, ein sehr guter Beitrag!
Was mir aufgefallen ist: du machst keine Unterscheidung, wenn du von ethnologischen Texten (Ethnographie oder theoretische Abhandlung) und Filmen (Dokumentarfilm oder Visualisierung theoretischer Überlegungen) sprichst. Dieser Gedanke kam mir, als du von den barbüßigen Frauen auf bekleideten europäischen Leinwänden schriebst.
Ich finde jedoch, dass man sich zunächst einmal darüber im Klaren sein sollte, was der Film, den man sich da ansieht eigentlich will, im ethnologischen Sinn. Würde es evtl. Sinn machen, für ethnologische Filme genauso Kategorien aufzustellen, wie für wissenschaftliche Texte, damit Ziele und Aussagen damit klarer sind? Damit wären sie auch besser vergleichbar und somit besser zu diskutieren. Vielleicht ist die vielgelobte Offenheit und Deutbarkeit von Filmen gerade bei ethnologischen Filmen, wenn sie wissenschaftlich ernst genommen werden wollen, eher unvorteilhaft? Kein Platz für Kunst? Muss man sich entscheiden, wenn man einen ethnologischen Film machen will?
Lese ich deinen Text, bekomme ich sehr das Gefühl, dass dies ebenfalls eine Konsequenz wäre. Ist das so gemeint?
Sabine Netz
Hier meine ersten und sehr spontanen Gedanken zu deinem Blogeintrag:
„Sind die selektiven Eingriffe in Film einfach zu schwerwiegend, um einer Filmaussage trauen zu können und wenn ja woran liegt das? Kann im Film zu viel werden? Ist Text eine dichtere und sichere Basis für wissenschaftliches Arbeiten? “
Wie Film ist auch Text das Ergebnis einer oder mehrerer Selektionen: Was schreibe ich, was nicht? Wie schreibe ich es, wie benenne ich es? Genau diese Macht gibt es im Film. Ich glaube, dass sowohl in Text als auch in Film „verheimlicht, manipuliert und verdeckt“ werden kann. Auch in einem Text könnte man seine konstruierten Gespräche darstellen, ja, man kann sie sogar niederschreiben, wenn sie garnicht stattgefunden haben.
Liegt das Problem hier viel mehr beim Rezipienten, der Bilder eher “glaubt“?
„Ich fragte mich danach, ob die ganze Sozialkritik in Wisemans Filmen, nur eine von vielen Lesarten und nicht definitiv im Film angelegt sei. “
-Ich denke auch, dass die Sozialkritik in Wisemans Filmen nicht angelegt sein muss (und nach seinen Aussagen, wenn diese ernst zu nehmen sind, auch nicht angelegt war).
Es gibt ja immer die Ebene der MacherInnen, des Films und der Rezipienten. Jede Ebene steht irgendwie fuer sich und hinterlässt doch ihre diskursiven Spuren in einem Screening (der Macher ins bspw seiner filmischen Handschrift, der Selektion der Bilder etc; der Film als scheinbares Ergebnis; und der Rezipient, der aus seinem Kontext und Erfahrungsbereich heraus den Film deutet oder etwa einfach nur „konsumiert“ (ohne große Deutungsversuche)). Die Sozialkritik hätte Wiseman in den Film einschreiben können: doch vielleicht entsteht die mächtige Wirkung seiner Filme erst dadurch, dass diese Kritik nicht unbedingt intendiert war? Die Sozialkritik entsteht doch hier eher auf der Ebene des Rezipienten, der bspw die im Grunde von Wiseman rein deskriptiv gezeigte Situation bspw der Menschen in einer us-amerikanischen Psychatrie in den 60igern sieht (Titicut Follies). Dieser Rezipient vergleicht die gezeigten Bilder mit denen, die er von heute kennt oder bedient sich seiner Vorstellung von Psychologie und psychischer Krankheit und wird die Situation im Film kritisch betrachten. Weil ihm diese Kritik unhinterfragt gegeben und „logisch“ erscheint, glaubt er, dass der Film als Sozialkritik gemacht wurde.
Ich frage mich hier: Wäre das mit einem Text genau so möglich? Enttarnt nicht die bei jedem einzelnen Wort und Satz stattfindende Wahl viel mehr die Ansicht eines Autors bzw ist diese schwerer zu verbergen?
Zu Jasmins Frage:
„Kein Platz für Kunst?„
Das finde ich garnicht… Genauso wie es im Schreiben das Ziel sein kann, durch den richtigen Einsatz von Metaphern und bestimmten Formulierungen eine möglichst „dichte Beschreibung“ abzuliefern, genau so kann man das meiner Meinung nach auch beim Machen eines Films fokussieren: durch eine bestimmte Bildsprache oder Montagen.
Meiner Meinung nach lassen sich bestimmte Phänomene, besonders die auf transnationaler Ebene bzw die Überschneidung und gegenseitige Beeinflussung verschiedener Ebenen (national, „individuell“, religiös etc….) gerade durch sogenannte „experimentelle Film – Kunst“, also gezielte Ton- und Bild – Montagen besonders gut darstellen. Das sind dann Aussagen, Thesen; sie werden nur in einer anderen Sprache gemacht, dass heißt nicht in Schriftsprache (mit der wir seit Schulzeiten gelernt haben, umzugehen) sondern eben in Filmsprache (in der die meisten ungeübter sind). Diese Filmsprache kann bestimmte Phänomene vielleicht besser darstellen als Schriftsprache.
Ein wichtiger Vorteil von Filmen: es werden, wenn der Film gut ist, Sinne angesprochen. Die gehören schließlich auch zum Menschen. Ich habe beim Göttinger Filmfestival einen experimentellen Film gesehen zu „Abwesenheit“ in seinen vielen verschiedenen Bedeutungen und Ausprägungen in heutiger Zeit. Ich habe die Aussage gelesen und gleichsam gefühlt – so eindruecklich, wie sie ein Text kaum hätte vermitteln können.
Das könnte gleichsam aber auch missinterpretiert werden in der „kalten“ Wissenschaft?
„Und überhaupt: wie kann ethnologisches Wissen in Filme eingebracht werden? Ist das der Grund, warum Text besser geeignet ist, weil er streitbar ist und Missinterpretationen in peniblen wissenschaftlichen Grabenkriegen diskutiert werden? “
Film muss nicht für sich stehen und trägt seinen Teil bei zu einer bestimmten Diskussion oder eröffnet eine solche… Dennoch muss das nicht heißen, dass man dann auch mit Film auf Film antworten muss (meiner Meinung nach aber antworten kann). Film ist doch wie Text nur ein Mittler der eigenen Gedanken und kann je nach Kontext als passendes Medium eingesetzt werden oder nicht. Geht es um einen schnellen Schlagabtausch, ist vielleicht Schriftsprache oder mündliche Sprache besser zu gebrauchen. Das nimmt jedoch dem Film nicht seine Legitimation an sich. Denn mit Film können bestimmte Dinge erreicht werden, die wiederum Text nicht kann (wobei die beiden Medien wohl nicht komplett von einander abgegrenzt werden können und auch Gemeinsamkeiten aufweisen). Habe ich in einer bestimmten Situation das Gefühl, lieber ein Radioprojekt oder einen Film zu machen, weil das meine Ziele eher erreichbar macht, dann entscheide ich mich eben dafür…
Film ist also genauso streitbar – mit allen zu Verfügung stehenden Medien können wir auf ihn antworten.
Der Filmemacher kann schließlich auch in Form von schriftlichem Text reagieren, um Missinterpretationen entgegen zu wirken…
Interessant ist die Frage dennoch, wie man filmisch auf einen Film antwortet. Doch scheint mir das möglich, in dem man eben andere Bilder wählt, aus anderen Perspektiven filmt o.ä…
Und: wie lassen sich große Theorien filmisch darstellen? Oder: Muss man große Theorien filmisch darstellen? Oder: Ist es nicht die Kombination von passenden Medien (wobei Film dennoch nicht als rein illustratives Mittel gedacht werden soll!), die am besten ein bestimmtes Thema beschreiben/erörtern kann?
Weitere Gedanken, die mir beim Göttinger Filmfestival kamen:
1. Warum werden zu 90 Prozent nur Filme an nicht-“westlichen“ Orten gedreht? Das ähnelt natürlich auch der schriftlichen Ethnologie…
2. Die meisten ethnologischen Filme werden nur auf Festivals gezeigt. An einer weiteren Streuung schienen die meisten RegisseurInnen kaum interessiert. Das fand ich bei einigen Filmen sehr sehr schade, teilweise auch irgendwie ungerecht gegenüber den Protagonisten, die darum gebeten haben (wie ein flehender Mann in einer Enklave in Marokko, der hoffte, den Weg über das Mittelmeer nach Europa zu finden: „Show the people how we live here!“….)
Und: Andere Filme sind viel leichter und billiger zu bekommen. Warum machen sich ethnologische FilmemacherInnen so rar? Oder gibt es Bemühungen, die Filme öffentlich bspw in Kinos oder in Schulen zu zeigen? Ist nicht gerade Film ein wunderbares Medium, ethnologische Gedanken und Themen weiter zu verbreiten?
3. Was mich zum dritten Punkt bringt: Viele der Filme auf dem Gieff „gefielen“, weil sie interessante/sympathische oder abstoßende Charaktere als Protagonisten zeigten.
Doch, und da gebe ich dir Recht, Friedemann, müssen, ethnologische Filme nur „gefallen“?
Ich erinnere mich vor allem an einen Film über ein Heim für Menschen mit Behinderung in Indien. Gezeigt wurde ein außergewöhnlicher Bewohner des Heims: Er konnte mit seinen Füßen malen und durfte eine Kunstschule besuchen. Das war ein schöner Portraitfilm. Auch zeigte die Möglichkeiten auf, die in einem indischen Heim für Behinderte da sind.
Ich war dennoch enttäuscht, hat man über das Heim und die anderen, vielleicht nicht so herausstechenden Bewohner und den Umgang der Pflegerinnen mit ihnen nichts erfahren.
Nach dem Film stellte ich mir deshalb die Frage:
Kann man nicht auch einen Film machen, in dem man sich anderen Menschen und Situationen nähert, die auf den ersten Blick vielleicht nicht so spannend erscheinen, die aber ein soziales Phänomen genauso gut, oder vielleicht besser beschreiben? Warum immer laute Menschen filmen? Kann nicht auch Stille etwas ausdrücken? Natürlich weiß ich, dass so etwas schwieriger ist. Leichter hat man’s sicher bei spannenden ProtagonistInnen.
4. Die meisten der auf dem GIEFF gezeigten Filme haben sich meiner Meinung nach zu wenig getraut oder folgten in vielen Fällen dem „Manchester“-Stil.
Es wurde kaum explizit mit filmischen Mitteln gearbeitet, wie etwa mit gezielter Montage, Bildern…
Meiner Meinung nach haben sowohl Schrifttexte als auch Filme oder andere Medien ihre Vor- und Nachteile. Vielleicht müssen die Vorteile von Film noch expliziter ausgearbeitet werden?
Eine herausstechende Besonderheit von Film ist Möglichkeit der Darstellung von Gleichzeitigkeit. Das geht, in dem man beispielsweise einen Markt in Berlin mit Tonmontagen aus Teheran kombiniert. Oder, in dem man mehrere Bilder in einem postiert. Warum wird mit solchen Mitteln kaum gearbeitet, um beispielsweise transnationaler Phänomene, Verhältnisse, Verschwimmungen und Fluiditäten darzustellen und zu analysieren?
Und: Was sind weitere Vorteile von Film?
Jasmin Weinert
Ich glaube – um nur noch mal auf einen Aspekts deiner Überlegungen einzugehen – dass Film, wenn er deine letztgenannten (künstlerischen) Methoden verwendet, immer noch mal subjektiver wird und einem wissenschaftlichen Anspruch weniger genügen kann. Jedenfalls dachte ich, dass das auch ein Thema war, das Friedemann in seiner Abhandlung beschäftigt hat. Dass Film mit all seinen Möglichkeiten viel transportieren kann, steht völlig außer Frage, aber kann er gleichwertig mit wissenschaftlichen Texten angewandt werden? Die Frage bleibt dann nach wie vor: Wie erreicht man das?
Friedemann Ebelt
@Jazzmin:
ich glaube auch, dass verschiedenen wissenschaftichen Textsorten verschiedene Filmgattungen (ist das das richtige Wort?) gegenüberstehen. Habe zum Beispiel gelesen Hanno Möbius: Das Abenteuer „Essayfilm“. Hier wird unterschieden zwischen Essayfilm (etwa Chris Marker: mehr philosophische Meditation/Reflexion als Analyse) und Filmessay (etwa Farocki: will etwas analytisch untersuchen oder klären). Vielleicht funktioniert es, sich an solche ‚Reinheitsgebote‘ zu halten, damit das Anliegen eines Films verständlicher ist, aber das ist schwierig, weil diese Filmgattungen nicht so etabliert/bekannt/definiert sind wie Textsorten. Jetzt kommt deine wo-bleibt-die-Kreativität-Frage ins Spiel: „Kein Platz für Kunst?“. Das ist mein Fazitversuchs, zu sagen: audio-visuelle Ethnologie sollte mit den kreativen-ästhetischen Qualitäten von Film (Essayfilm/Experimentalfilm) und mit der Möglichkeit mit Filmsprache auch treffsicher theoretisch argumentieren zu können (Filmessay) umgehen können. Zur Zeit wird die produktive Seite der audio-visuellen Ethnologie (Mainstream sozusagen), soweit ich das einschätzen kann, dominiert von reportageartigen Querschnittsfilmen die sich an einem Ort oder einer Person orientieren (was nicht schlecht ist, aber eben auch sinnvoll durch andere Filmtypen ergänzt werden kann (Kunst- und Experimentalfilm werden m.E.n. vernachlässigt).
Also: ja, ich finde Kunstfilm, der mehr auf Impression/Expression als auf Vermittlung von Faktenwissen zielt, sollte Thema einer audio-visuellen Ethnologie sein (in Produktion und Analyse), weil er bestimmte kulturelle Zusammenhänge/Leistungen/Praktiken einfach mit anderem Fokus erfasst, und darum geht es schließlich: durch verschiedene Ausdrucksformen verschiedene Einsichten erlangen.
[Aber das ist ja alles graue Theorie, mal sehen was künstlerisches bei der Sommerschule rauskommt…]
Diese wissenschaftlicher Text und Film Gleichwertigkeit sind vieleicht auch eher einer Frage der Akzeptanz des geneigten wissenschaftlichen Publikums, als eine Frage der ‚Qualitaet‘ der Medien?
@ Sabine
ich habe mir einfach mal ein paar Fragen rausgesucht:
„doch vielleicht entsteht die mächtige Wirkung seiner Filme erst dadurch, dass diese Kritik nicht unbedingt intendiert war?“
Wiseman meinte in diesem Internet-Gespräch (siehe Foto oben), dass er damals (1967) Titicut Follies in einer der besten Anstalten der U.S.A filmte. Er sagte, er habe ‚best of practise‘ gefilmt, für eine Institution mit bekannten Misständen hätte er nie eine Dreherlaubnis bekommen. Er sagte auch, die Forscher in Primate hätten ihre Arbeit in seinem Film immer fair dargestellt gesehen. Kritisch gelesen wurden diese Filme zu ihrer Zeit ’nur‘ von Tier- und MenschrenrechtsaktivistInnen. Heute, mit dem Abstand von über 40 Jahren, sind die Bilder des damaligen Standes praktizierender Wissenschaft, glaube ich, einfach abschreckend und wirken ‚mittelalterlich und unethisch‘.
„Warum machen sich ethnologische FilmemacherInnen so rar?“
Ich finde, ethnologischer Film ist so präsent wie selten zuvor, aber er wird dadurch rar gemacht, dass er aus Sicht von KinobetreiberInnen, Produktionsfirmen und Sendeanstalten als Finanzdebakel und Publikumsschreck gilt. Viele Filme entstehen mit Geldern von Instituten – weiß jemand, wie es praktisch damit aussieht, öffentlich finanzierte Filme zu vertreiben? Im Prinzip müssten sie kostenlos zur Verfügung stehen – und dabei kann nur das gute alte Internet helfen.
„Und: wie lassen sich große Theorien filmisch darstellen? Oder: Muss man große Theorien filmisch darstellen?“
Mich würde es brennend interessieren, wie die Akteur-Netzwerktheorie verfilmt aussieht – ganz ehrlich. Wieso sollte das nicht gehen? Vielleicht geht es auch nicht und es kommt bei dem Versuch etwas völlig anderes heraus, wäre dann innovativ…. es kann also gar nicht schiefgehen.
Stimme dir auch zu, dass „100-Filme-in-4-Tagen-Festivals“ vielleicht nicht die beste Lösung sind, um Filme zu sehen, zu besprechen, zu verarbeiten und mit ihnen zu lernen. Gibt es so etwas auch mit vorgelesenen Texten? Zum Beispiel ein interdisziplinäres „3-Tage-und-23-Themen-Rennlesen“.
Sabine Netz
@ Jasmin: Und ein Text, der aus dem großen Topf der Schriftsprache und dem entsprechenden Kontext, in dem er entsteht, seine Mittel und Worte schöpft, also selektiert, ist nicht subjektiv?
Film bedient sich filmischer Zeichen, Syntaktik, Metaphern und Mittel wie „Parralelmontage“ oder „Split Screen“ oder einer bestimmten Kameraeinstellung. Er stellt mit Filmsprache seine These auf.
Das Problem ist nur, dass diese Argumentation in Filmsprache eben, auf der Ebene des Rezipienten, verstanden werden muss…
Da ist wohl die Problematik:
Ist Filmsprache zu kontingent, ambivalent, offen? Oder gibt es mangelnde Rezipienten-Kompetenz?
Ist es nicht auch in der sozialwissenschaftlichen Schrift-Wissenschaft so, dass für einen zu beschreibenden bestimmten Sachverhalt ein terminus technicus gefunden wird? Dass am Anfang eines Textes Sachverhalte erstmal definiert werden müssen, damit die Leser konkret wissen, was die AutorInnen beispielsweise mit einem Wort meinen? Außerdem gibt es ein paar Leitlinien für den Aufbau wissenschaftlicher Texte..
Ist solch eine Ausarbeitung mit Film möglich? Ist es möglich, ein konkretere Filmsprache zu entwickeln?
Friedemann Ebelt
Ahoj, ich habe mich etwas im Netz umgeschaut und einen spannenden Bruder-im-Geiste-Post von Björn Rohles gefunden, in dem es genau um die Text-Bild/Film Fragen (medien- und kommunikationswissenschaftliche Unterscheidungsmerkmale etc.) geht. (Sehr vorbildlich mit Literaturangaben! ) Witzig das Wort ‚vor-bildlich‘ in dem Zusammenhang….
/ / Gibt es einen wissenschaftlichen Film? / / Björn Rohles / /
Björn Rohles
@ Friedemann:
Danke erst einmal für den freundlichen Hinweis auf die Diskussion hier, die ich sonst wohl niemals gefunden hätte. Ich antworte jetzt einfach mal wahllos auf einige Punkte, die mir auffallen. Bei Bedarf oder wenn die Diskussion sich entsprechend entwickelt beschäftige ich mich gerne in einem eigenen Post genauer damit. Vorweg allerdings der obligatorische Hinweis, dass ich kein Ethnologe, sondern Medienwissenschaftler bin – obwohl ich mit der Ethnologie an einigen Punkten schon Kontakt hatte.
„Beim Rezipieren gehören Filme auf den Seziertisch, dessen Instrumente sich die audio-visuelle Anthropologie entweder bauen, oder klauen muss (aus der Film- und Medienwissenschaft?)“
Das beschreibt im Grunde genommen ziemlich gut, was wir so mit Filmen machen. Die Probleme hast du in deinem Post schon gut erfasst. In der Medienwissenschaft arbeiten wir (nachdem wir uns einen Film mehrmals angeschaut haben) mit diversen Protokollen, die wir je nach Tiefe unserer Analyse entweder rein inhaltlich halten oder – wenn stärker ästhetisch/visuell analysiert werden muss – auf Sequenz- oder gar Einstellungsebene runterbrechen. Da werden natürlich selbst kurze Filme zu seitenlangen Protokollen verdichtet, in denen diverse stilistische und inhaltliche Elemente festgehalten werden. Außerdem arbeiten wir mit Folgen von Stills aus den Filmen, die einen relevanten Sachverhalt gut präsentieren können. Ich nehme an, dass derartige Verfahren für die Ethnologie ebenso sinnvoll sein können.
Ob Filme nun wissenschaftlich sind, finde ich sehr spannend. Zunächst einmal würde ich dazu sagen, dass Filme nicht einfach etwas zeigen, sondern der Sinn vom Rezipienten aktiv konstruiert wird – auf Basis dessen, was er sieht, aber auch seiner kulturellen und individuellen Prägung. Texte werden in der Hinsicht durchaus ähnlich behandelt, und viele wichtige Impulse für die Medienwissenschaft stammen daher auch aus der Literaturwissenschaft.
„Der Druck, der auf audio-visueller Anthropologie lastet, rüht auch daher, dass audio-visuelle Rezeptionskompetenzen gegenüber einer ausgereiften wissenschaftlichen Schriftkultur schlicht aufgeholt werden müssen: sprachliche Stilfiguren sind Schulstoff, Paralellmontagen nicht.“
Das denke ich auch. In der Literatur zur Multimodalität, von der wichtige Impulse in diesem Bereich ausgehen, spricht man oft von einer Forderung nach einer „visual literacy“, die man zur Beschäftigung mit Film entwickeln müsse. Ich denke, durch unsere lange Konzentration auf Text haben wir sehr gute Mittel entwickelt, Text zu analysieren und damit umzugehen. Für Film fehlt ein derartiges Wissen weitgehend, es fällt schon schwer festzumachen, wie eine bestimmte Interpretation überhaupt entsteht.
Ein Beispiel aus der Ethnologie: Nehmen wir einmal an, ich möchte jemanden aus einer bestimmten kulturellen Gruppe zeigen, der Einfachheit halber nehmen wir mal eine Französin. In einem Text könnte ich einfach schreiben „eine Französin“. Wenn ich die Französin jedoch im Bild zeige, spielen automatisch weitere Faktoren eine Rolle. Das Licht, der Kamerablickwinkel, die Montage werden bestimmte Interpretationen nahelegen und andere unwahrscheinlich machen. Doch auch, wenn ich da auf „Neutralität“ achte (wie es dokumentarische Fotografen versuchen), wird mir das Bild eine Vielzahl von Aspekten zeigen, die potentiell sinntragend sein können. Ein Rezipient fragt sich: „Ist ihre Kleidung nun typisch für Französinnen? Gibt es überhaupt so etwas wie typische Kleidung für Französinnen? Wenn sie nun typisch ist, oder es eben nicht ist, welche Rolle spielt das dann in diesem Film? Oder ist ihre Kleidung für diesen Zusammenhang sogar vollkommen irrelevant?“
Grundfrage ist also: Wie kommt der Sinn aus den Bildern in die Köpfe der Rezipienten?
Wir stehen allenfalls am Anfang, auf diese Frage Antworten geben zu können. In meiner Magisterarbeit versuche ich beispielsweise in einem ganz kleinen Rahmen herauszufinden, inwieweit die mediale Gestaltung von (multimodalem) Lernmaterial bestimmte Deutungen nahelegt und andere nicht, und mit welchen Verfahren wir überhaupt Erkenntnisse darüber bekommen können. Vielversprechend finde ich in dem Zusammenhang, Verfahren aus der Rezeptionsforschung anzuwenden. Theoretisch geht das stark in Richtung der Multimodalität (Kress/van Leuwen, Holsanova). Und sogar da gibt es hitzige Diskussionen darüber, ob man visuelle Gestaltungselemente in einer Art „visueller Grammatik“ organisieren kann (nach der Idee: Filmen von unten bedeutet Erhabenheit der Person, und zwar immer und überall), oder ob man nicht sehr viel differenzierter und einzelfallbezogener analysieren muss.
@ Sabine
„Ist Filmsprache zu kontingent, ambivalent, offen? Oder gibt es mangelnde Rezipienten-Kompetenz?“
Schwierige Frage. Meine Vermutung ist, dass beides zutrifft. Ich denke, dass eines der großen Ziele vieler Experimentalfilme der Aufbau einer Rezipienten-Kompetenz ist – deshalb spielen und hinterfragen sie Sehgewohnheiten. Gleichzeitig glaube ich aber auch, dass Filmsprache grundsätzlich ambivalenter ist als Textsprache.
Friedemann Ebelt
@ Björn Rohles
Freut mich, dass du den Weg hierher gefunden hast und dir das Plaudern hier gefällt.
Den Hinweis, dass viele Experimentalfilme sich mit dem beschäftigen, was wir hier schriftlich diskutieren, finde ich großartig. Denn damit ist klar, dass sich Film im Film theoretisch-reflexiv behandeln lässt und seinem ‚Konkurenten‘ Text in der Beziehung grundsätzlich nicht nachsteht. Mir fällt dazu Film von Samuel Becket ein (mit Buster Keaton) – ein kluger Film. Auch ohne Begleittexte sind wir in einem Seminar durch Diskutieren auf die wesentlichsten Sachen gekommen. Also funktioniert es ja.
Wenn du dich mit dem Design von Lernmaterial beschäftigst, ist das doch beispielsweise relevant für Lehr- und Aufklärungsfilme, die auch Wissen vermitteln wollen. Unter Dokumentarfilmen sind die ‚didaktischen oder belehrenden‘ umstritten, viele Filmfreunde mögen sie nicht. Da hat sich ein Widerspruch aufgetan in unserer Textdiskussion. Auf der einen Seite fragen wir uns, ob es eine klar nachvollziehbare Filmgrammatik gibt, mit der wir theoriehaltige Filme machen können, auf der anderen Seite würden wir solche Filme als RezipientInnen wahrscheinlich nicht mögen.
Die Filmanalysen, die du beschreibst sind die formal oder inhaltlich? Ich glaube, solche Analysen gibt es zu dem Film The Ax Fight. Auf jeden Fall ist das ein ethnologischer Film (was auch immer das sein mag), zu dem es sehr viel Auswertungs- und Erklärungsmaterial gibt. Es gibt zum Beispiel eine CD für den Lehrbetrieb. Hat die jemand?
Ist Film theorietauglich?
Nach dem Genuss von Derek Jarman’s Wittgenstein (natürlich ist ein Film die Quelle), bin ich zu folgendem Ergebnis gekommen: Es kann keinen Zweifel mehr geben: in jeden Film, egal wie ‚künstlerisch‘ oder ‚dokumentarisch‘ er ist, und egal wie viel Bedeutung diese beiden Schubladen für die Fragestellung haben, passt exakt soviel Theorie, wie ich in der Lage bin während des Filmschauen und des Nachdenkens davor und danach in der Lage aufzunehmen. Damit ist es nicht mehr eine Frage der Fähigkeiten des Mediums Film, sondern eine Frage wer einen Film wie macht und wer ihn wie sieht. Dann brauche ich ’nur‘ noch meine Theorie-erkenn-skills und Theorie-in-Film-verwandel-skills schärfen (für beides brauche ich noch fancy Wissenschaftswörter). Fertig ist eine simplifizierende Antwort auf die Frage, wie viel Theorie in Filme passt.
Und dazu hab ich noch ne Hypothese:
Theorie steckt in zwei Arten im Film: explizit (beispielsweise wenn Jarman seinen Wittgenstein über das berühmte Rhinozeros referieren lässt) und implizit (beispielsweise, in der theatralisch-extravagant-puristischen Gestaltung des Filmraums).
Wenn zuviel ‚explizite Theorie‘ in einem Film steckt tendiert er im schlimmsten Fall in Richtung einer bebilderten Vorlesung und wenn zuviel ‚implizites Theorie‘ in einem Film steckt, verkleinert sich der Kreis derer, die das Wissen als solches erkennen. Derek Jarman hatte den Dreh raus beides so zu portionieren, dass beide ZuschauerInnen anspricht: die, die gern schlaue Sätze hören und die, die gern an der Frage knobeln wollen: was will der Künstler und damit sagen. Wieder was vom Film gelernt. [Alle anderen Überlegungen (Vergleich Text und Film) fand ich bisher irgendwie blockierend.]
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Norman Schräpel hat über das Gesichtsbuch die wirklich interessante (aber noch nicht fertige) Seite medien-verstehen verlinkt.
F
Björn Rohles
@Friedemann
„Denn damit ist klar, dass sich Film im Film theoretisch-reflexiv behandeln lässt und seinem ‘Konkurenten’ Text in der Beziehung grundsätzlich nicht nachsteht.“
Das auf keinen Fall. Film ist voll von Bezügen zu anderen Filmen, übrigens auch das Mainstream-Kino. In gewisser Weise gibt es sogar für beide Arten von intertextuellen Bezügen Entsprechungen. Dem wörtlichen Zitat des Textes würde der 1:1 Ausschnitt aus einem Film entsprechen, dem indirekten (oder geistigen) Zitat typische visuelle Mittel, die zitiert werden (jemand springt hoch und die Zeit steht still… = Matrix). Wirken können solche Zitate natürlich nur, wenn der zitierte Film dem Betrachter bekannt ist.
„Norman Schräpel hat über das Gesichtsbuch die wirklich interessante (aber noch nicht fertige) Seite medien-verstehen verlinkt.“
Vielen Dank dafür: extrem interessante Seite, muss ich mir merken – wenn sie auch in meinem Browser ziemlich zerschossen aussieht und kaum zu bedienen ist.
„Theorie steckt in zwei Arten im Film: explizit (beispielsweise wenn Jarman seinen Wittgenstein über das berühmte Rhinozeros referieren lässt)…“
Steckt Theorie dann nicht eher in der Sprache, die Wittgenstein nutzt? Welche Rolle spielt der Film selbst bei dieser Art Theorie im Film, außer dass er halt Ton aufzeichnen kann?
„… und implizit (beispielsweise, in der theatralisch-extravagant-puristischen Gestaltung des Filmraums).“
Das ist ein interessanter Punkt. Einer meiner früheren Dozenten meinte einmal, dass Film vielleicht in einem anderen Register über Wahrheit zu uns spreche als Wissenschaft. Er hat dann mit diversen Mainstream-Filmen gezeigt, wie soziologische Theorien aufgegriffen werden. Theorie und Film behandeln sozusagen den gleichen Sachverhalt. Das heißt nun nicht, dass die Theorie in gleicher Form im Film enthalten wäre, und auch nicht, dass die Theorie „wahrer“ wäre als der Film. Es sind einfach nur zwei verschiedene Wege, auf die gleiche Frage Antworten zu finden.
Wenn ich darauf einmal deine Hypothese anwende (die ich übrigens sehr interessant finde!): Kann eine explizite Theorie, die uns einen Sachverhalt möglichst eindeutig beschreiben soll, in impliziter Weise in einem Film wiedergegeben werden, ohne ihren Inhalt zu verändern? Oder würde sie nicht zumindest ambivalenter werden? Und wäre diese Ambivalenz nicht genau das, was wir bei einer Theorie nicht wollen, wenn sie uns doch die Wirklichkeit vereinfacht darstellen soll und nicht komplizierter?
„[Alle anderen Überlegungen (Vergleich Text und Film) fand ich bisher irgendwie blockierend.]“
Ich ehrlich gesagt auch. Sie waren zwar Ausgangspunkt meiner eigenen Überlegungen, aber ich komme immer wieder zu dem Punkt, dass Film und Text nun mal zwei verschiedene Medien sind und nicht 1:1 verglichen werden können.
Seitdem ich meinen Beitrag geschrieben habe, frage ich mich immer öfter, ob wir die Frage nicht falsch stellen. Wir fragen uns: Kann Film wissenschaftlich und theoriehaltig sein? Aber wie sollen wir auf so eine Frage eine Antwort finden? Film ist ein hochkomplexes Gebilde, bei dem so viele Faktoren hineinspielen, die wir nicht überblicken können.
Ich frage mich deshalb, ob wir die Frage nicht kleinteiliger stellen müssen. Zunächst einmal würde ich vorschlagen, nicht den Film als Ganzes, sondern die eingesetzten Modalitäten zu betrachten. Die Frage wäre dann eher: Lassen sich Theorien visuell darstellen. Und das könnten wir anschließend auf die visuellen Mittel herunterbrechen.
Wenn ich die Farbe (in Anlehnung an Kress/van Leeuwen) als Beispiel nehme, bewegen wir uns auf einem Kontinuum, das von Schwarz-Weiß über eine als „normal“ empfundene Farbigkeit zu stark übertriebenen Farben mit großen Kontrasten führt. Meine Vermutung ist folgende: „normale“ Farben werden vom Rezipienten ohne große Gedanken registriert, aber die anderen Enden des Kontinuums werden mit Bedeutung versehen. Schwarz-Weiß könnte als „Vergangenheit“ interpretiert werden, übertriebene Farben als „surreal“/“extrem“. Nun könnte es so sein, dass eine Theorie, die in surrealen Farben dargestellt wird, als extreme Vereinfachung wahrgenommen wird, während sie in „normalen“ Farben als „Wahrheit“ wahrgenommen werden würde – wir müssten also zu surrealen Farben greifen, da Theorien Vereinfachungen sind. Ein solches Vorgehen hätte in meinen Augen den Vorteil, dass wir sehr genau forschen könnten, wie welche Stilmittel wirken.
Friedemann Ebelt
Wissen als gesprochener Text
„Steckt Theorie dann nicht eher in der Sprache, die Wittgenstein nutzt? Welche Rolle spielt der Film selbst bei dieser Art Theorie im Film, außer dass er halt Ton aufzeichnen kann?“
Stimmt, der Gedanken, dass Empirie keine Gewissheit verschafft (Thema der Rhinozerosdiskussion), steckt in der Sprache. Verpackt ist die Aussage in einer Szene, die ich mir bildlich gut merken kann. Der junge Wittgenstein kommt nach dem Gespräch zwischen Bertrand Russel und dem ‚alten‘ Wittgenstein mit einer Nashornmaske unter dem Tisch hervor gekrochen. (Screenshots: A und B)
Dieses Bild hilft mir, mich an dieses bekannte Zitat zu erinnern, während ich es in einem Buch vielleicht gelesen und leider, wie so oft, wieder vergessen hätte. Damit währen wir bei der Frage, ob Wissen/Theorie auch im Film nach wie vor in Schrift und Sprache steckt, aber filmische Gestaltungsmittel bei der Wissensvermittlung helfen…?
verschiedene Register
„Es sind einfach nur zwei verschiedene Wege, auf die gleiche Frage Antworten zu finden.“ Das ist eine Feststellung, die ich mir übernehmen will. Das macht Mut mit Film zu experimentieren und steht freundlich über der leidlichen Diskussion, ob nun Text oder Film der Königsweg sei. Register wird bei Wiki als ‚Sprechweise‘ umschrieben. Ich finde, dass trifft es. Ein Register ist „eine für einen bestimmten Kommunikationsbereich charakteristische Rede- und Schreibweise.“ (Quelle) Bleibt die Frage, wie der Kommunikationsbereich von Film aussieht. Kann er in die Wissenschaft hineinwirken, oder bleibt er auf einem populären Bereich beschränkt? Hier denke ich, wie oben schon gesagt, sind nicht die Eigenschaften von Film als Medium entscheidet, sondern die Menschen, die ihn als Wissenschaft wollen oder nicht.
step by step
Dein Vorschlag, die Frage: Kann Film wissenschaftlich und theoriehaltig sein? kleinschrittiger anzugehen klingt gut. Bei Farben anzufangen finde ich extrem spannend, weil ich mir über Farben keine großen Gedanken gemacht habe. Das geht dann in die Richtung, eine Filmsprache zur Verfilmung von Theorie zu entwickeln? Komplementärkontraste könnten etwa These- und Antithese illustrieren, die Mischung daraus ist dann die Synthese. Geht auf diese Weise vermitteltes Wissen durch das Auge in den Kopf? Nehmen wir Wissen visuell auf? Sind wir logo- oder pictozentrische Wesen? Klar, bei dem Versuch eine Filmsprache zu definieren/nutzen stellt sich die Frage, ob die Ambivalenz/interpretative Freiheit der im Film enthaltenen Theorie zunimmt. Aber: wie viele ambivalente Auslegungen großer Philosophen haben die Textakademien hervorgebracht.
„Lassen sich Theorien visuell darstellen?“
Wenn wir beim Einzelbild, statt beim Film anfangen, werden immerhin zahlreiche Versuche unternommen das zu tun:
Theorie und Praxis Cartoon
Akteur-Netzwerk-Theorie
Bourdieus Raum der sozialen Positionen und Raum der Lebensstile
Gravitationstheorie
Diese Visualisierungen werden in der Wissenschaft akzeptiert und sind auch Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Ich glaube die Science and Technology Studies (STS-Wiki) machen das (Zum Beispiel zu dem Problem, dass wir technologische Fakten sehr oft von Messgeräten als Tabellen, Graphen etc. geliefert bekommen und diese Interpretieren müssen.) Zumindest gibt es Wissenschaft über das technisch erzeugte Bild. Was fehlt, ist eine wissenschaftliche Betrachtung von Visualisierungen sozialwissenschaftlichen Wissens. Oder gibt es das?
Björn Rohles
„Damit währen wir bei der Frage, ob Wissen/Theorie auch im Film nach wie vor in Schrift und Sprache steckt, aber filmische Gestaltungsmittel bei der Wissensvermittlung helfen…?“
Interessante Frage, die man recht gut untersuchen könnte. Ich glaube aber nicht, dass man eine wirklich saubere Trennung hinbekommen wird, höchstens in sehr künstlichen Experimenten. In den meisten Fällen wird das Wissen, das man aus einem Film zieht, eine Zusammenstellung aus den verschiedenen Quellen sein (Sprache, Bild usw.).
„Bleibt die Frage, wie der Kommunikationsbereich von Film aussieht. Kann er in die Wissenschaft hineinwirken, oder bleibt er auf einem populären Bereich beschränkt? Hier denke ich, wie oben schon gesagt, sind nicht die Eigenschaften von Film als Medium entscheidet, sondern die Menschen, die ihn als Wissenschaft wollen oder nicht.“
Guter Punkt. Das passt gut zu der Idee, dass Sinn nicht irgendwie in einem Medium steckt, sondern vom Rezipienten in der Auseinandersetzung mit dem Material und seinem Wissen konstruiert wird.
Interessant fände ich dann natürlich die Frage, wie eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Film aussehen könnte oder welche Fähigkeiten man entwickeln müsste, um so etwas zu tun. Dabei könnten Experimente sicher helfen, einen Weg zu finden. Kennst du Beispiele dafür, wie so etwas aussehen könnte?
„Das geht dann in die Richtung, eine Filmsprache zur Verfilmung von Theorie zu entwickeln?“
Genau so sehe ich das auch. Ich vermute allerdings, dass man keine allgemeingültige Filmsprache entwickeln kann, sondern eher filmische Konventionen. So etwas gibt es im Bereich des Unterhaltungsfilms schon vielfach.
Ein Beispiel: Wir sind es gewohnt, dass wir Bilder miteinander verketten. Wenn uns ein Film erst ein Haus von außen zeigt und dann einen Menschen in einem Haus, gehen wir davon aus, dass er sich in dem Haus von vorhin befindet – auch wenn wir nicht gesehen haben, wie die Kamera hineingegangen ist. Solche Sehgewohnheiten haben sich im Laufe der Filmgeschichte herausgebildet, und wir haben sie in unserer lebenslangen Erfahrung mit Filmen gelernt. Das führt zu interessanten Ergebnissen: Es gibt zum Beispiel Hinweise darauf, dass kleine Kinder Bilder noch nicht so stark verketten wie Erwachsene, und vielleicht ist das ein Grund dafür, warum Kindersendungen oft episodisch angelegt sind. Und es gibt immer wieder Filme, die mit Konventionen spielen, zum Beispiel wenn in „Das Schweigen der Lämmer“ der Zuschauer zuerst denkt „Gleich haben sie den Psychopathen“, weil er erst die Polizei vor der Tür außen sieht und dann der Psychopath von innen Richtung Haustür geht, und erst so nach und nach klar wird, dass sie nicht beim richtigen Haus sind.
Es wäre spannend sich zu überlegen, ob solche Konventionen auch für wissenschaftlichen Film denkbar wären. Dein Vorschlag mit den Komplementärkontrasten ist eine spannende Idee, wie man These und Antithese visualisieren könnte. Es müsste sich dann in den Wissenschaftlern der Glaube durchsetzen, dass solche Kontraste Bedeutung haben und nicht nur nach visuellen Gesichtspunkten ausgesucht worden sind.
„Was fehlt, ist eine wissenschaftliche Betrachtung von Visualisierungen sozialwissenschaftlichen Wissens. Oder gibt es das?“
Gute Frage, die ich so direkt nicht beantworten kann. Ich würde vermuten, dass die Bildwissenschaft dazu einiges erarbeitet hat. Ich habe mal in einem Vortrag von Horst Bredekamps „Darwins Korallen“ gehört, in dem er Darwins Theorie auf die Visualisierung der Theorie bezieht. Das Bild der Koralle hat ganz andere Eigenschaften als das Bild des Baumes, das sich schließlich als Visualisierung der Evolutionstheorie durchgesetzt hat. Man könnte nun vermuten, dass die Korallenvisualisierung Entwicklungen wie beispielsweise den Sozialdarwinismus nicht so ohne weiteres getragen hätte. Geht das in die Richtung, die du dir vorstellen kannst?
Übrigens danke für die Beispiele, die du genannt hast, die finde ich sehr interessant. Irgendwann werde ich mich mit denen mal näher beschäftigen 🙂
Friedemann Ebelt
In den meisten Fällen wird das Wissen, das man aus einem Film zieht, eine Zusammenstellung aus den verschiedenen Quellen sein (Sprache, Bild usw.).
Genau das haben wir bei unserer Sommerschule probiert. Theresa George, Kirsten Reichert und ich, haben einen Film (Vorstellungen 8:09 Min.) gemacht, der eine ethnologische Aussage sein will. Wir waren im Leipziger Zoo zu einer Veranstaltung namens „Dschungelnacht“, haben mit verschiedenen Menschen gesprochen, fotografiert und gefilmt. Zusammen mit Zitaten aus Texten (u.a. Die Welt als Ausstellung von Timothy Mitchell) haben wir dann in unserer „Experimentalgruppe“ versucht einen theoriehaltigen Text-Film zu montieren und verschieden formuliertes Wissen einzubauen. Dabei sind wir auf ‚handwerkliche Probleme‘ gekommen:
Es ist ungewöhnlich mehr als eine Einstellung lang zu lesen. Wenn Bild und Text gleichzeitig zu sehen sind, lenkt das eine oft vom anderen ab. Verschiedene Leute haben verschiedene Lesegeschwindigkeiten, aber der Film gibt ein bestimmtes Tempo vor. Zitieren funktioniert, glaube ich, ganz gut. Aus irgendeinem Grund sind Filme, in denen gelesen werden muss, gleich ‚Experimentalfilme‘ und irgendwie nicht gleichberechtigt mit etablierten Formen, wie Portrait und Co. Gleichzeitigkeit von, ’natürlich‘ nicht zusammenhängendem Ton, Bild und Text, ist eine Rezeptionsherausforderung, die ein entspanntes Filmgucken schwer macht. Aber generell funktioniert es gut, Bilder und Text zu mischen, um Inhalte konzentriert als Text und anschaulich als Bild zu verbinden.
Interessant fände ich dann natürlich die Frage, wie eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Film aussehen könnte (…) Kennst du Beispiele dafür, wie so etwas aussehen könnte?
Das Thema, wie Wissenschaft-machen mit Film-machen zusammengehen ist mir eben ein Rätsel, es gibt, so weit ich weiß, auch wenige Filme, die als ‚wissenschaftlich‘ gelten, so wie Chronicles of a Summer. Aber es müsste doch eine Reihe soziologischer Filme geben? Es gibt da eben diese Lücke zwischen wissenschaftlich akzeptiertem Text und eher illustrierendem Film. Es gibt den Film The Ax Fight (1975) von Tim Asch und Napoleon Chagnon der beides ist:
Der besteht aus 4 Teilen.
1. Teil: ungeschnittenes, unkommentiertes Footage (gesammelte Daten)
2. Teil: Audioaufnahme der beiden Filmemacher, die kurz nach dem Ereignis darüber reden was passiert ist (Feldnotiz)
3. Interpretation und Analyse mit Diagrammen, Erklärungen, Pfeilen, Standbildern etc. (Theoriebildung)
4. Eine geschnittene Version der Aufnahmen (Präsentation)
Es wäre spannend sich zu überlegen, ob solche Konventionen auch für wissenschaftlichen Film denkbar wären.
Stimmt, aber wie setzen sich Konventionen durch, indem sie jemand aufschreibt, der wichtig genug ist, so dass sie auch ernst genommen werden, oder enstehen die Konventionen einfach im Laufe der Zeit? Das hat doch bestimmt schon mal jemand gemacht….
Man könnte nun vermuten, dass die Korallenvisualisierung Entwicklungen wie beispielsweise den Sozialdarwinismus nicht so ohne weiteres getragen hätte. Geht das in die Richtung, die du dir vorstellen kannst?
Ja, ja genau, also schönes Beispiel, die Frage ist, wenn Wissenschaft sowieso oft mit Visualisierungen arbeitet, weil sie es muss, weil sie Teil einer visuellen Gesellschaft ist, wieso macht sie einen Bogen um Film, während sie Diagramme, Schemata, Abbildungen und Graphen anhimmelt und wieso bekennt sie sich nicht dazu, dass ihre Ergebnisse früher oder später audio-visualisiert werden. Wenn die Wissenschaft sich selbst nicht überlegt, wie sie ihr Wissen visualisiert, dann macht es der Journalismus oder die Kunst (was auch gut ist), oder jeder für sich zu Hause auf dem Notizblock. Damit umgeht die Wissenschaft zwar viele Probleme, die mit dem Ton und den Bildern kommen, aber sie zieht auch einen tiefen Graben um ihren Elfenbeinturm.
Aletheia
Ich bin froh auf diese Diskussion gestoßen zu sein. Ein gute, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Wesen des Films und seiner Übertragbarkeit auf augenscheinlich abstrakte Sachverhalte.
Ist Text eine dichtere und sichere Basis für wissenschaftliches Arbeiten?
Ich muss gleich Eingangs fragen, welchen konkreten Anspruch soll das audiovisuelle Medium Film für dich in der Wissenschaft erfüllen?
Siehst du seine Aufgabe nur in audiovisueller Veranschaulichung einer bereits in Textform diskutierten Theorie oder könnte dieses Medium womöglich eine vollkommen neue Methode sein, sich wissenschaftliche Fragestellung zu nähern? Ist es möglich, dass der Film mit dem gesamten Prozess seiner Genese eine Masterarbeit in geschriebener Form adäquat substituieren könnte? Erlaubt einem das Endprodukt Film überhaupt einen Einblick in seine Entstehung und Methode, die eine Diskussion überhaupt möglich machen? Also kann man das Korsett der wissenschaftlichen Methode auf den Film übertragen und wollen? Karikiert er sich nicht selbst, wenn der Film versucht sich selbst bei seiner Entwicklung abzubilden?
Meiner Meinung nach muss ein Film schon durch sein Wesen am wissenschaftlichen Anspruch scheitern.
Bilder und Szenen rufen bei jedem Betrachter unterschiedliche Interpretationen und Emotionen hervor, die nicht vom Betrachters und dessen Vorbildung zu einem Thema abhängen sondern auch von im als Individuum, dass die Welt durch seine Sinne zwangsläufig subjektiv wahrnehmen muss. Nun könnte man entgegenhalten, dass beim Lesen von Texten in jedem Menschen unterschiedliche Phantasiebilder entstehen, aber gilt das auch für abstrakte, wissenschaftliche Texte? Dort ist doch der Anspruch ein Problem so objektiv wie nur irgendmöglich zu beleuchten und zu diskutieren.
Dem Filmemacher stehen einfach zu viele Werkzeuge und Möglichkeiten zur Verfügung eine konkrete Textaussage in eine Szene zu gießen. Für mich ist das keine Frage von fehlenden Schlüsseln für Bildsprache, Farbcodes und dergleichen. Dies ist schon allein durch die grenzenlose Vielfalt Bild, Ton und Text miteinander zu verknüpfen höchst kompliziert. Durch diese Fülle entstehen auch zufällige Kombinationen, die dem Regisseur selbst nicht beim Dreh, Schnitt, etc. bewusst waren. Gerade weil diese Vielfältigkeit ein essentieller Teil des Wesens von Film ist, kann er keine eindeutige Aussage machen. Er kann doch nur veranschaulichen.
Aber gibt es eine Möglichkeit, ein Problem audiovisuell zu diskutieren und zu einem schlüssigen Resultat zu gelangen?
Wie beim Lesen eines wissenschaftlichen Textes könnte man dem Zuschauer die Gelegenheit geben den Film kurz zu verlassen, um „Querzusehen“: interaktiv von einer Szene in eine von ihm gewählte Szene wechseln. Dies ist natürlich schon von daher schwierig, weil er dann den Film allein schauen müsste, und auch die wählbaren Szenen nicht kennt. Das impliziert womöglich, dass die Aussage des Regisseurs und das zu visualisierende Thema dahinter vollkommen verzerrt und entstellt wird.
Daher könnte man den Zuschauer auch schon in den Schnitt bei der Auswahl und Kombination von Szenen mit einbeziehen oder ihn gleich Storyboards oder gar selbst gedrehte Szenen als Vorschlag mit einbringen lassen – das wäre creativ commons in Reinform. Eine Art Film 2.0! Auch wenn der Begriff zu oft bemüht wird und nicht gerade vor Kreativität sprüht.
Ein Ansatz sich filmisch speziell mit einer ethnologischen Fragestellung auseinander zu setzen, wäre also den künftigen Zuschauer in den gesamten Prozess des Filmemachens mit einzubeziehen. Die Vorstellung sich so vom Film als rein zu konsumierendes Medium zu lösen ist für mich außerordentlich reizvoll – in Form eines Filmprojektes audiovisuell miteinander streiten. Ist das möglich?
Friedemann Ebelt
@ Aletheia
Ich habe mir ein paar Sachen von dir herausgesucht:
Ich denke, ein Film kann nicht alles sein. Er fällt schwer, sich ein offenes, partizipatorisches Autorenkino vorzustellen. Das heißt, ich finde prinzipiell alles von Essayfilm, Mockumentary, Spielfilm, Beobachtung bis Experimentalfilm spannend, solange es mir gelingt, damit was anzufangen. Für mich ist die Frage mittlerweile vielmehr, warum Wissenschaft unfähig ist, Film zu nutzen. Also, warum Wissenschaft nicht den Anspruch haben sollte sich über Schriftsprache hinaus zu betätigen.
Natürlich, auf jeden Fall. Bleibt nur die Frage ob die Herren und Damen der Korrektur geneigt sind das so zu sehen.
Ich glaube Film/Video sind genauso viel oder wenig methodentransparent wie soziologische Stochastik oder ethnologische Monografien. Letztendlich muss den AutorInnen alles geglaubt werden, was nicht vollständig überprüfbar ist. Um den Rest kann gestritten werden. Das gilt solange bis Lügendetektoren oder Gedankenlesemachinen in der Wissenschaft zum neuen Standard werden.
Das ist eine sehr gute Frage. Da bin ich auf ein Beispiel gespannt. Kennt jemand so ein Projekt?
Diskutieren mit Film?
In Bezug auf die Befürchtung, dass sich ein argumentativer Austausch schriftlich besser führen lässt als mit Filmen, schrieb ich oben im Artikel:
Heute viel mir wie Schuppen von den Augen, dass das erstens sehr gut funktioniert und, dass zweitens der Fakt, dass es selten gemacht wird, kein Argument ist, daran zu zweifeln, dass Filmdiskussionen möglich sind. Hier kommt das Beispiel dazu:
These (Darstellung):
Fahrenheit 9/11 (2004) von Michael Moore
Gegenthesen (Gegendarstellungen):
Fahrenhype 9/11 (2004) von Alan Peterson
Manufacturing Dissent (2007) von Rick Caine und Debbie Melnyk
Hinzu kommen noch die zahlreichen Diskussion in Fernsehbeiträgen und im Videoangebot dieses Internets, in Form von Themenabenden, Interviews, Gesprächen und so weiter.
Spannend finde ich, dass es so scheint, als würde dieser filmische Disput um ‚Wahrheit‘ und ‚Authentizität‘ so ambitioniert geführt, weil es um die Versorgung der Öffentlichkeit mit wahlentscheidenden Informationen geht. Diese Bedeutung hatte der Dokumentarfilm bereits bei John Grierson, dem Vater der britischen und kanadischen Dokumentarfilmbewegung. Sein Ideal war die staatsbürgerliche Aufklärung und demokratische Partizipation der Bürger einer Demokratie. Jetzt lautet die These, dass Moore den Dokumentarfilm mit genau den selben Reizthemen wiederbelebt, sogar zu einem Hype verholfen, hat, wie Grierson ihn 70 Jahre vorher durch die Gründung des National Film Boards of Canada institutionalisiert hat. Ihre jeweilige Haltung zu der jeweils amtierenden Regierung ist natürlich genau entgegengesetzt. Das heißt Moore greift die US Regierung an, während Grierson im Auftrag der britischen beziehungsweise kanadischen Regierung arbeitete. So gesehen zieht sich auch hier ein roter Disput-Faden durch die Dokumentarfilmgeschichte, ohne dass er von den FilmemacherInnen in ihren Filmen ausgewiesen wird.
Zur Frage, ob und wie Diskussionen mit Film möglich sind, kommen noch die Filme, die eine verfilmte Diskussion sind. Ein Beispiel dafür ist der Film ‚Margaret Mead and Samoa‘ (1988) von Frank Heiman, der die kontroverse und berühmte Debatte zwischen der Ethnologin Margret Mead und dem Ethnologen Derek Freeman, aufrollt. (Zu sehen bei youtube)