Auch wenn von Vertretern der Sozial- und Kulturanthropologie in kontinuierlichen Abständen die Abschaffung des Begriffs Kultur gefordert wird, verwiesen sei an dieser Stelle nur kursorisch auf den Aufsatz Writing against Culture der US-amerikanischen Kulturanthropologin Lila Abu-Lughod ((Abu-Lughod, Lila: Writing Against Culture. In: Fox, Richard (Hg.): Recapturing Anthropology. Working in the Present. Santa Fe 1991, S. 137-162.)) oder den in der Zeitschrift für Kulturwissenschaften aus dem Jahr 2007 abgedruckten Beitrag von Chris Hann ((Hann, Chris: Weder nach dem Revolver noch dem Scheckbuch, sondern nach dem Rotstift greifen: Plädoyer eines Ethnologen für die Abschaffung des Kulturbegriffs. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 (2007), S. 125-146.)), bezieht das Autorenduo des hier besprochenen Buches im Hinblick auf das zyklische culture bashing eine konträre Position, denn Kultur hat nicht nur Hochkonjunktur, sondern culture matters (S. 24). Aus genuin ethnologisch argumentierender Warte appellieren Breidenbach und Pál unter Rekursnahme auf Ulf Hannerz daran, das Kulturwesen Mensch und dessen im alltäglichen Lebensvollzug erzeugten Bedeutungen und symbolischen Semantiken wieder in den Fokus der Betrachtungen zu rücken (S. 73), um damit nicht zuletzt mit nah an der sozialen Lebenswirklichkeit angesiedelten kritischen Kulturanalysen die Schlüsselkompetenzen der Ethnowissenschaften – hierunter subsumiere ich die Ethnologie, Kulturanthropologie, Europäischen Ethnologie und Volkskunde – herauszustreichen. Insbesondere die mit den gesellschaftlichen Umbrüchen der Dekolonisation, der Bürgerrechtsbewegung in den USA, dem Ende des Kalten Krieges und der Globalisierung einhergehenden Prozesse haben zur Proliferation der Begriffe Kultur und Ethnizität geführt, die sowohl bei ethnisch etikettierten Auseinandersetzungen auf dem Balkan als auch bei der Verteidigung indigener Wissensbestände im Mato Grosso als selbstevidente Gewissheiten in aller Munde sind. Auch in den Wissenschaften vom Menschen blieben die oben genannten Transformationen und veränderten Rahmenbedingungen seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts insofern nicht ohne Auswirkungen, als dass sie einerseits zu einer Reihe von turns in den Kulturwissenschaften führten und andererseits revisionistische Diskussionen über die Adäquatheit des methodischen und theoretischen Instrumentariums zur Untersuchung wie Repräsentation von Kultur auslösten. Hierbei unterzog sich auch die Ethnologie einer Modifizierung, da sie gegenwärtig ihre Aufgabe nicht mehr darin sieht, vorgeblich abgeschlossene soziale Einheiten an fest definierten Orten wie pazifischen Inseln oder afrikanischen Dörfern zu erforschen. Vielmehr verschob sich ihr Kompetenzbereich in ein heterogenes Setting globaler Verflechtungen (global village), in dem sich ihre gesellschaftsrelevante Bestimmung darin erschöpfte – so zitieren die Autoren Thomas Hylland Eriksen –, es denjenigen, die simplifizierende Antworten auf komplexe Fragen geben wollen, schwieriger zu machen, diese zu rechtfertigen (S. 23).
In den sechs aufeinander folgenden Kapiteln werden mittels zahlreicher ethnografischer Beispiele sowie eines komparativ angelegten Blickwinkels einzelne thematische Akzentuierungen beleuchtet, um zu dokumentieren, welchen maßgeblichen Einfluss die anthropogene Grundkonstante cultura – verstanden mit dem semiotischen Ansatz von Geertz als eine Textlandschaft, deren innere Logik nur über die Untersuchung von konkreten menschlichen Handlungsabläufen in diesen Bedeutungsgeweben erschlossen werden kann ((Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur. In: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. 6. Auflage. Frankfurt a. M. 1999, S. 7-43, hier S. 9.)) – auf die soziale Wirklichkeit von Akteuren aus unterschiedlichen Winkeln der Erde besitzt. Das Kapitel Clashing Civilizations dekonstruiert die Anfang der 1990er Jahre aufgestellte These von Samuel Huntington, die vorgibt zu wissen, dass die Verwerfungslinien zwischen den „Zivilisationen“ die Kampflinien der Zukunft sein werden. Die die Bush Administration beim war against terror graduell legitimierenden Studien von Bernard Lewis und Raphael Patai, so schildern Breidenbach und Pál, bestechen nicht gerade durch Sensibilität und Reflexivität, sondern durch die Ausblendung intrakultureller Unterschiede sowie die – in der Tradition der culture and personality school (S. 62) stehende – generalisierende Konstruktion essentialistischer Entitäten und nationaler Charaktere. Dass diese medialen Zurschaustellungen monolithischer und durchgängig ahistorischer Kulturrepräsentationen – der islamische „Kulturraum“ ist dabei nur ein prominentes wie tagesaktuelles Beispiel unter vielen – ihre zum Teil ideologisch motivierte Sprengkraft nur aufgrund von Wirklichkeitsverzerrungen und stereotypen Komplexitätsreduzierungen generieren, darf hier vorausgesetzt werden.
Nachdem uns ein Kapitel darüber informiert hat, dass Entwicklungshilfeprojekte hautsächlich an der nur unzureichenden kulturellen Einbettung bzw. der mangelnden Vertrautheit mit lokalen Gegebenheiten (Bsp. Einhaltung traditioneller Distributionswege) scheitern, beschäftigt sich Kapitel drei mit den Ursachen und Folgen virulenter Ethnisierungsprozesse, bei denen insbesondere sozial marginalisierte bzw. stigmatisierte Gruppen mit dem strategischen Verweis auf ihre Kultur, Historie, Sprache, Hautfarbe und Zugehörigkeit erbittert um Autonomie, politische Rechte, natürliche Ressourcen und Macht kämpfen. Nach Günther Schlee, der als Direktor des Departments Integration und Konflikt des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung in Halle an der Saale Eine Theorie religiöser und ethnischer Konflikte ((Schlee, Günther: Wie Feindbilder entstehen. Eine Theorie religiöser und ethnischer Konflikte. München 2006.)) vorgelegt hat, sind vor allen Dingen konstruierte Identitätsmarker dafür verantwortlich, dass Fremdbilder und damit ethnische Auseinandersetzungen in Sri Lanka, dem Irak und Srebrenica entstehen. Denn diese von den Akteuren als primordiale Gegebenheiten gehandelten Faktizitäten machen es erst möglich, eine Grenze zwischen den Hutu und den Tutsi (S. 126ff.) zu ziehen. Über jene ikonischen Bilder von der eigenen Ethnizität, die über politische Instrumentalisierung und mehr oder weniger historisch belegbare Traditions- wie Mythenbildung im Stil einer invention of tradition ((Hobsbawm, Eric: Introduction: Inventing Traditions. In: Ders/Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition. Cambridge 1983, S. 1-14.)) zu den so genannten primordial loyalities ((Geertz, Clifford: Angestammte Loyalitäten, bestehende Einheiten. Anthropologische Reflexionen zur Identitätspolitik. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 48 (1994), S. 392-403.)) verdichtet werden, lassen sich imaginierte Gemeinschaften herstellen. Diese kulturelle Fabrikation von sich über Kontraste und Äquivalenzen definierenden Kollektiven nehmen solch radikale und menschenverachtende Züge an, dass sogar ordinary people (S. 133) – der frappierende und zugleich die eigene Kultur betreffende Zusammenhang zum Buch Ganz normale Männer von Christopher R. Browning fällt mir en passant auf ((Browning, Christopher R.: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. 6. Auflage. Reinbek bei Hamburg 2005.)) – Kriegsgräuel gegenüber ihren Mitmenschen ausüben. Das Kapitel über den in vielen Teilen des alten Kontinents vorgeblich gescheiterten Multikulturalismus, dem klassische Einwanderungsländer wie Kanada und Australien bereits in den 1980er Jahren als erstrebenswerte Gesellschaftsform auch auf politischer Ebene eine Grundlage schufen, zeigt eindrucksvoll, weshalb dieser Begriff in vielen Ländern der Erde anhaltend kontroverse und nicht selten polemisch geführte Dispute nach sich zieht. Nicht nur das Kopftuch, als sichtbares wie symbolisches Emblem der religiösen oder modischen Identifikation, sondern auch Zwangsehen, Ehrenmorde, Karikaturenstreit, die Assimilationsbestrebungen gegenüber den australischen Ureinwohnern, die Folgen von 9/11 sowie die von afrikanischen Migrantinnen in Europa praktizierten Formen der Infibulation werden als Beispiele kulturwissenschaftlich analysiert, um das Wechselverhältnis zwischen dominierender Mehrheitsgesellschaft und minoritären Gruppen zu reflektieren. Nach dem Abschnitt über den Schutz indigener Wissensbestände – beispielsweise Heilpflanzen, haka, die Rekonstruktion der Buddhastatuen im afghanischen Bamiyan-Tal, der kulturelle Genozid des Geschichtsverständnisses und die heritage-ization (S. 247) von Fetischobjekten – setzt besonders der Abschnitt über die interkulturelle Kommunikation Akzente. In einer zunehmend global gestimmten Welt sei ein spezifisches Wissen über Kulturen nicht nur bei mobilen Expatriats transnational operierender Konzerne eine absolute Notwendigkeit, um erstens die firmeninternen Wirtschaftsziele umzusetzen und zweitens kulturell bedingte Störungen der Arbeitsabläufe aufgrund der hieraus resultierenden Mehrkosten zu vermeiden. Die im Fahrwasser von Geert Hofstede manövrierende Ratgeberflut mit der selbstauferlegten Leitprämisse „cracking cultural codes“ (S. 302), die westlichen Wirtschaftsunternehmen in China eine verheißungsvolle, kulturelle Barrieren transzendierende und damit gewinnoptimierte zwischenmenschliche Interaktion garantiert, wird von den Autoren kritisch gegen den Strich gelesen und interpretiert.
Mein Fazit lautet: Breidenbach und Pál besitzen als ethnologisch geschulte Wissenschaftler das nachdrücklich formulierte Anliegen, die kulturell konditionierten Erscheinungen vor dem Hintergrund ihrer lebensweltlichen Rückbindung zu betrachten und zugleich die an der Entstehung kultureller Wissensordnungen beteiligten Deutungs- und Sinnstiftungsagenturen ans Licht zu bringen. Die im Buch eingenommene Perspektive auf Welt verdient deshalb ausdrückliches Lob, weil sie von der Grundannahme ausgeht, dass kontraintuitive Erkenntnisse nur dann zu Tage gefördert werden können, wenn man dem Facettenreichtum der Realität gesondert Rechnung trägt. Jene in Seeing Culture Everywhere unternommenen sozial- und kulturanthropologischen Vorstöße in die gelebte Wirklichkeit tun sich insofern hervor, als dass sie mittels ethnografisch dichter Verfahrensweisen gleichzeitig das vorgeblich Bekannte verfremden und das vermeintlich Exotische vertraut werden lassen. Bei der Lösung von signifikanten Fragen in unserem globalisierten Zeitalter, so weiß das Autorenduo zu berichten, seien weder monokausale Erklärungsversuche noch pauschalisierende Bewertungsallianzen zielführend, sondern vielmehr sei ein über ethnografisch-induktive Verfahrensweisen generiertes Gespür für die Kontextualitäten und die Wechselwirkungen von konfliktträchtigen kulturellen Zerklüftungen von Nöten. Bei der Auseinandersetzung mit Phänomenen wie etwa die Verwendbarkeit ethnologischer Wissensbestände im Kriegseinsatz (S. 152) oder die Ursachen der vergleichsweise niedrigen Lebenserwartung bei australischen Aborigines (S. 314ff.) wird in den Kulturanthropologie mit Nachdruck an die Renaissance eines dekonstruktivistischen Blicks appelliert, den der Forscher in seinem Untersuchungsfeld einnehmen soll. Diese erfahrungsgesättigte und auf die lokal-kulturellen Mikrobereiche fokussierte Sehweise lässt sich nicht von der Bilder- und Symbolpolitik der Aufmerksamkeitsindustrie blenden. Methodisch im Erbe von Malinowskis und Mead ausgebildet, begibt sich der Forscher persönlich mit Leib und Seele in die wenig hinterfragten „Unterwelten der Kultur“ ((Maase, Kaspar/Warneken, Bernd Jürgen (Hg.): Unterwelten der Kultur. Themen und Theorien der volkskundlichen Kulturwissenschaft. Köln u. a. 2003.)) bzw. populärkulturellen Niederungen des menschlichen Alltags und ist aufgrund seiner „vor Ort“ gesammelten Wissenserkenntnisse als interkulturell sensibilisierte Autorität in der Lage, ein genaues Bild vom Welt- und Selbstverständnis, welches nicht selten unter Zuhilfenahme von Narrativen, rituellen Handlungen und Symbolen zu einem stimmigen und mit Sinn angereicherten Gesamtkonstrukt verdichtet wird ((Eriksen, Thomas Hylland: What is Anthropology? London 2004, S. 169.)), der dort lebenden „Anderen“ zu zeichnen. Diese Expertise macht die vorliegende Publikation nicht nur für ein akademisches Publikum interessant, sondern auch empfehlenswert für Menschen, die eine demaskierende Sichtweise auf Kultur erlernen möchten.