Michel Foucault: Kritik der Gouvernementalität & Gouvernementalität als Chance

„Wie ist es möglich, daß man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird – daß man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird?“ ((Foucault, Michel 1992: Was ist Kritik, Berlin: Merve Verlag. S. 11-12.)) So charakterisiert Michel Foucault die parallel zu den sich seit Anbeginn des 15. Jahrhunderts entwickelnden Regierungskünsten entstehende Intervention einer „kritischen Haltung“, die als Gegenstück der Regierungskunst, stets deren Partnerin und Widersacherin zugleich war. ((Vgl. Foucault, Michel 1992: Was ist Kritik, Berlin: Merve Verlag. S. 12.))

Michel Foucaults historisches Interesse richtete sich Ende der siebziger Jahre auf die Frage nach der Möglichkeit einer guten Regierung, die ihrer Bevölkerung ein größtmögliches Maß an Freiheit anbietet. Kritik ist, und soll der Gegenpol und zugleich notwendiger Bezugspunkt einer solchen ‚Gouvernementalen Regierungskunst‘ sein. Bevor es hier im Weiteren darum geht aufzuzeigen, worin diese besteht, und wie sie sich entwickelt hat, bleibt festzuhalten, dass auch diese ‚gute Regierung‘ ohne Kritik an ihr nicht leben kann. In diesem Sinne schrieb Foucault: „Politik ist nicht mehr und nicht weniger als das, was mit dem Widerstand gegen die Gouvernementalität entsteht, die erste Erhebung, die erste Konfrontation.“ ((Foucault, Michel 2005: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 486.))

Michel Foucaults analytisches Raster der „Gouvernementalität“ versucht Regierungsrationalitäten und Programme historisch am Beispiel der Entwicklung der souveränen Staatsräson hin zur liberalen Regierungskunst aufzuzeigen. Nachlesbar ist seine Fahndung nach der Gouvernementalität in den Vorlesungen, die er Ende der siebziger Jahre am Collège de France in Paris hielt. Diese trugen den Titel „Sicherheit, Territorium, Bevölkerung“ (1978) und „Die Geburt der Biopolitik“ (1979). Beide Zusammen werden auch als die „Geschichte der Gouvernementalität“ bezeichnet.

Schon der erste Titel hebt zwei entscheidende Elemente hervor: ‚das Territorium‘ und ‚die Bevölkerung‘. Foucault meint hier einen historischen Wandel des Aufmerksamkeitsschwerpunktes der Regierung erkennen zu können. Die Sorge der Regierung galt immer weniger der eigenen territorialen Integrität und wandte sich stattdessen immer mehr der eigenen Bevölkerung zu. Was ist die Bevölkerung? Die Bevölkerung ist zunächst des Gegenteil einer anonymen Masse, sie ist etwas in Zeit und Raum Vermessenes und Kartographiertes. Das bedeutet, dass die Bevölkerung erst mit der historischen Erfindung der Statistik ((Statistik kommt etymologisch betrachtet vom lateinischen Wort statisticum was soviel heißt wie ‚den Staat betreffend‘. Daher wurden die Staatswissenschaften bis ins 18 Jh. Auch Statistik genannt. Ihre Aufgabe war das Sammeln und Analysieren von quantitativen Daten der Bevölkerung.)) und der Sozialwissenschaften im weitesten Sinne entstand bzw. epistemologisch sichtbar wurde. Die Regierung stützt sich seit dem auf ein bestimmtes Wissen, das in „centres of calculation“ von Experten erstellt wird. ((Vgl. Rose, Nikolas; Miller Peter 1992: Political Power beyond the State: Problematics of Government, British Journal of Sociology 43(2): 173-205. S.185.)) Diese innere Logik der Gouvernementalität birgt jedoch die Gefahr der Depolitisierung in sich, insofern es bestimmten „wissenschaftlichen“ Schulen gelingt, diese „centres of calculation“ hegemonial zu besetzen. ((Gegenwärtig spricht alles dafür, dass die „rational choice theory“ dies Position inne hat. Diese ist besonders strak im angloamerikanischen Raum vertreten und in der Tat scheint sich heute niemand in der Politikberatung zu finden, der nicht in den USA Wirtschaftswissenschaften studiert hat oder aber Vertreter der „Rational choice theory“ ist.)) Foucault selbst, geht auf diese Problematik nicht weiter ein und beschränkt sich in seiner Vorlesung auf die Rolle des deskriptiv arbeitenden Historikers bzw. Genealogen der Machtformationen.

So konstatiert er einen Prinzipienwandel in der Regierungskunst: galt es der souveränen Macht, die sich nur um sich selbst sorgt, sinngemäß „sterben zu machen und leben zu lassen“, so geht es der modernen „biopolitischen Regierung“, die sich um die Bevölkerung sorgt, darum „sterben zu lassen und leben zu machen“. Die Zwischenschritte dieser historischen Entwicklung sind zunächst die Entwicklung vom naturrechtlichen Souveränitätsmodell über die ‚gute Policey‘ der frühen Neuzeit bis hin zur liberalen Kritik am Politzeistaat und schließlich der liberalen Regierungsformation. Nimmt man das Wort ‚Mentalität‘ aus der Gouvernementalität herraus, ((Ob dies von Foucault intendiert war oder nicht sei hier unbeachtet.)) wird ersichtlich, dass es der gouvernementalen Vernuft auch und vor allem auf die Bestimmung der Denkweise ihrer Subjekte, bzw. der Vorgabe eines Rahmens, innerhalb dessen das Denken ablaufen soll, ankommt. Dies steht im Gegensatz zu Theorie Hobbes „Der Leviathan“ von 1651. Hobbes begnügte sich damit, die Menschen mit Furcht zu führen.

Warum sollten sich die Regierten aber auch mit ihrem Gehorsam gegenüber der Regierung völlig identifizieren? Auch hier ist der Schlüssel zum Verständis ein historischer. Folgt man Foucaults Ausführungen, so erkennt man, dass die klassische souveräne Staatsmacht, das Feudalsystem sowie auch die Kirche bzw. das bisher unhinterfragte monistische christliche Pastorat ((Foucault definiert mit Pastorat die christliche geprägte Technik einer aufopfernden Führerschaft der Seelen.)) im 16. und 17. Jahrundert in die Krise geriet. Die Reformation und schließlich der Dreißigjährige Krieg zerrissen jede bis dahin gewachsene Form von Ordnung. Der Boom der Regierungsratgeber des 16. und 17. Jahrhundert ist auch eine Reaktion darauf. Es galt die zersprengte Gesellschaft wieder einzufangen, eine neue Ordnung zu stiften und vor allem die Bevölkerung wieder produktiv zu machen, zum Wachsen zu bringen. Das Mittel dafür war das Zusammengehen von staatlicher Souveränität und der Technik des Pastorats. Wurden bisher die Körper vom Staat beherrscht und die Seelen vom christlichen Pastorat geführt, so übernahm die neue gouvernementale Regierungskunst als Hybrid beide Aufgaben zugleich und wachte über den ’neuen Menschen‘, den Bürger der bürgerlichen Gesellschaft der Seele und Körper zugleich war.

Bestes Beispiel für die neue gouvermentale Symbiose der alten ordungsstiftenden Regime sind die 1698 gegründeten Franckeschen Stiftungen zu Halle. Hier wurde mit fürstlichen Wohlwollen die pietistische Glaubensgruppe beim Bau einer Reformschule utopischen Ausmaßes unterstützt mit dem Ziel, neue Subjekte heranzubilden, die ihrereseits – bestärkt durch ihren Glauben und ihre Moral – alles daran setzen werden die Gesellschaft ‚zum Besseren‘ d.h. zu mehr Produktivität zu führen. Dies wiederum ist von Vorteil für den Fürsten, für sein Territorium, wie für seine gesamte Bevölkerung. ((Vgl. Rüdiger, Axel 2005: Staatslehre und Staatsbildung. die Staatswissenschaft an der Universität Halle im 18. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer. S. 100 – 103.))

Das Instrument gouvernementaler Vernuft wurde die ‚Policey‘ (Verwaltungswissenschaft) des 18. Jahrhunderts die, anders als die heutige Polizei, mit allen Berreichen der Lebensführung betraut wurde. Politik griff über die Policey nun nicht mehr nur auf die obersten Schichten eines feudalen Systems zu, sondern grub sich tief hinein in kleinste lebenspraktische Fragen des Alltags. Typische Policeytheoretiker waren Samuel Pufendorf, Chistian Thomasius und Christian Wolff, die sich kritisch mit Thomas Hobbes und auch Niccolò Machiavellis bereits in die Krise geratenen Souveränitätsmodell auseinandersetzten.

Innerhalb Foucaults Vorlesungen nimmt der Begriff der Regierung eine immer größere Rolle gegenüber dem des Staates ein. Der Staat ist für ihn immer nur ein Netz von regierenden Instanzen. Macht wird für Foucault nie nur von oben über Potenz ausgeübt, sondern findet sich stets überall in den alltäglichsten Beziehungen. Würde man nur von einer Staatsmacht reden, so liefe man Gefahr zu essentialisieren und tatsächliche vielfältige und ambivalente Machtbeziehungen auszublenden. In diesem Sinne sollte sich – so Foucault – nun endlich auch die politische Theorie vom Souveränitästsmodell der Macht befreien und ihren Fokus auf alltägliche Machtbeziehungen und regierende Instanzen lenken, die sich weit unter der Staatsebene befinden: „Was wir brauchen ist eine politische Philosophie, die nicht um das Problem der Souveränität […] herum aufgebaut ist; man muss dem König den Kopf abschlagen, und in der politischen Theorie hat man das noch nicht getan“. ((Foucault, Michel; Fontana, A.; Pasquino, P. 1976: „Gespräch mit Michel Foucault“, In: Defert, Daniel; Ewald, Francçois (Hrsg.) 2003: Michel Foucault: Schriften, Band III. Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag. S. 200.))

Die liberale Bewegung hat ihren Ursprung in einer Kritik gegenüber diesem ‚zu viel regiert zu werden‘, das typisch für den Policeystaat war. Frühe liberale Regierungsprogramme fußten auf der Grundannahme einer Sphäre, die selbst keiner Regierung bedarf, da sie sich selbst natürlich regiert und formt: sie beriefen sich auf die Gesellschaft des Marktes. Der Mensch innerhalb eines liberalen Regierungssystems muss also einzig dahin gebracht werden, frei zu sein, am Markt teilzunehmen. Dies ist die Essenz des liberalen Freiheitsbegriffes. Die Errungenschaft der bürgerlichen Revolutionen waren Rechte gegenüber dem Staat, der bis dahin fast willkürlich herrschte und der im Paradigma der souveränen und policeystaatlichen Regierungsrationalität Gefahr lief, durch ein ‚zu viel Herrschen‘ kreative unternehmerische Potentiale zu erdrücken. Der Staat soll nun einzig die Sicherheit des Marktplatzes vor Räubern und Dieben gewährleisten. Ein Meilenstein der Bürgerrechte war der 1679 in England beschlossene „Habeas Corpus Act”, der den englischen Bürgern das Recht gegenüber dem Staat garantierte, nicht ohne Grund und richterlichen Beschluss festgesetzt zu werden.

Die Freiheit der liberalen Gesellschaft hat jedoch auch eine züchtige Zwillingsschwester: Die Disziplin, die in ihren spinnennetzartig in der neuen Gesellschaft wuchernden Schulen, Krankenhäusern und Fabriken mit harter – und nicht immer direkt sichtbarer – Hand herrschte. ((Vgl. Foucault, Michel 2008: Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 285.)) Die Disziplin bildete die normierten Seelen heran, die zum ‚Gefängnis der Körper‘ wurden. Freiheit und Zwang innerhalb einer liberalen Gesellschaft sind notwendig eng ineinander verwoben und aufeinander angewiesen. Ohne Disziplin keine Akkumulation des Kapitals, und ohne diese kein Wachstum, kein staatslegitimierender „Wohlstand für Alle“. Eine jede liberale Regierung muss darauf bedacht sein, das richtige Gleichgewicht zwischen Zwang und Freiheit zu finden. Gelingt dies, so gibt es die Möglichkeit des Wohlstands, ohne dass eine faktische gesellschaftliche Gleichheit realisiert oder auch nur erwünscht ist. Soziale Unterschiede scheinen schon durch die Arbeitsteilung der industriellen Gesellschaft notwendig und inhärent. Armut beispielsweise wird vom Liberalismus nicht als systemimmanent, sondern als ein moralisches Problem pathologischer Individuen angesehen.

Die „Gouvernementalität der Gegenwart“ ((Siehe dazu: Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne; Lemke, Thomas (Hrsg.) 2000: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.)) wird von Foucault weitgehend mit dem liberalen Programm einer „minimalen“ Regierung indentifiziert. Es geht im libralen Regierungsprogramm darum, ihren Subjekten größtmögliche Freiheit anzubieten, ohne sie direkt und paradox zur Freiheit zu zwingen. ((Vgl. Foucault, Michel 2005: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 97.)) Dafür bedient sich die Regierung administrativer Rahmensetzungen die Handlungsmöglichkeiten eingrenzen, aber auch aufzeigen sollen. Grundlegend ist hier Foucaults Auffassung, dass alle Subjekte, auf die Macht ausgeübt wird, notwendig frei sein müssen. Nur derjenige, der eine Auswahl treffen kann, ist frei und somit auch beeinflussbar. Auch die Regierungsmacht setzt daher immer freie Subjekte voraus und ist daher nie purer Zwang. ((Vgl. Foucault, Michel: „Subjekt und Macht“, In: Defert, Daniel; Ewald, Francçois (Hrsg.) 2005: Michel Foucault: Schriften, Band IV. Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag. S. 286.))

Die Freiheit, die die gegenwärtigen Regierungsrationalität zu realisieren versucht, ist allerdings nur in einem bestimmten Sinne: im liberalen bzw. ökonomischen Sinne zu verstehen. Die liberale Freiheit ist keine sozialsitische Freiheit, die als Gegenpol angeführt werden könnte.

Die liberale Gouvernementalität geriet – wie schon die Regierungsrationalitäten vor ihr – in die Krise, weil sie nicht nur Arbeistlosigkeit, Armut und Unzufriedenheit produzierte, sondern auch Wirtschaftskrisen nicht verhindern konnte. Der Markt brachte also keinen Wohlstand für alle, der Markt konnte sich nicht einmal von selbst halten. Scheinbar führte er sogar zu Kriegen und kolonialen Ausbeutugssystemen. So stellte es sich zumindest aus der Perspektive des Sozialismus dar, der als Kritik des Liberalismus im 19. Jahrhundert entstand. Neben diesem rief der Liberalismus auch in gewisser Weise den Nationalismus, Rassismus und Nationalsozialismus hervor, die jeweils auf ihre eigene Art und Weise dem Partikularismus des Marktes eine neue Form von Gemeinschaft gegenüberstellten.

Der in die Defensive geratene Liberalismus suchte nun nach neuen Antworten. John Maynard Keynes entwarf in den neunzehn-dreißiger Jahren eine Form des Staatsinterventionismus. Der Keynesianismus unternahm den Versuch, mittels staatlicher Eingriffe die Wirtschaft anzukurbeln und mit Sozialhilfe den Konsum der Unterschichten zu sichern. Nach dem zweiten Weltkrieg, der in den Augen des Liberalismus ein für alle Mal die Gefahr ’normativer Politik‘ aufgezeigt hatte, gewann der Liberalismus wieder die Oberhand, wenn auch in gemäßigter sozialverträglicher Form. Der neue Liberalismus der Nachkriegszeit (Foucault nennt ihn Neoliberalismus) stützte sich nicht nur auf Keynesianismus sondern entwickelte weitere neue Konzepte, wie den Ordoliberalismus in Deutschland. Der Ordoliberalismus ging davon aus, dass der Staat über den Markt herrschen müsse und diesen vor seinen inhärenten Selbstzerstörungs- und Monopolisierungslogiken beschützen müsste. Die Ordoliberalen sahen im Markt nichts Natürliches, sondern ein Kunstprodukt, das es mit Kunstfertigkeit zu erhalten galt. Der Staat selbst bezog seine Legitimation nach dem zweiten Weltkrieg nur noch aus seiner Fähigkeit, den Markt zu realisieren und mit dem Markt den Wohlstand. Der Staat diente dem Markt und somit den Menschen des Marktes. Auch die keynsianische Sozialliberale Koalition bis zur Regierung Helmut Schmidt fallen für Foucault unter die Regierungsrationalität des Neoliberalismus.

Heute meint man mit Neoliberalismus eher eine andere Schule, die parallel verlief, und die den scheinbar automatisch Staatsschulden verursachenden Keynsianismus (den Foucault zum Neoliberalismus zählt) durchaus kritisch betrachtete. Diese Traditionslinie verläuft über die Ökonomen Ludwig von Mieses, Friedrich August von Hayek bis zu deren Schülern Margaret Thatcher und Ronald Reagen – und darüber hinaus. In dieser Traditionslinie ist das Vertrauen auf den Markt unbegrenzt. Alles, auch die Regierung, wird den Gesetzen des Marktes unterworfen, der im Gegensatz zum Keynsianismus und Ordoliberalismus wieder als etwas Naturwüchsiges konzeptualisiert wird. Gab es je eine Krise, so lag die Ursache nicht etwa in einer zu geringen Staatsintervention, sondern in der bloßen Tatsache einer Staatsintervention. Neoliberale dieser Traditionslinie sehen zwar die sozialen Probleme die durch die Zurücknahme des Sozialstaats produziert werden, nehmen diese aber aufgrund ihrer ‚Präferenzordnung‘ ohne weiters in Kauf: Ihrer Regierungsrationalität getreu folgend, war es Margaret Thatchers erste politische Amsthandlung als Kultus- und Wirtschaftsministerin, die staatlich sichergestellte Gratismilch an Primärschulen zu streichen, was ihr den Spitznamen „Margret Thatcher, the milk snatcher“ einbrachte.

Diese normative Engführung der Freiheit basiert auf dem Menschenbild des Liberalismus. Das Subjekt und Objekt einer liberalen Regierungskunst ist der Homo oeconomicus, der stets seinen unmittelbaren Präferenzen folgt. Foucault verweist in seiner Vorlesung exemplarisch auf Gary S. Beckers „Human Capital Theory“, die in den siebziger Jahren einen wichtigen theoretischen Anstoss zum politischen Neoliberalismus gab. ((Foucault, Michel 2005: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 307-324.)) Foucault schlussfolgert, dass der egoistische Homo oeconomicus gerade durch seine unmittelbare Präferenzenfixiereung durch negative und positive Anreizsysteme „eminent regierbar“ ist. Die Schaffung von Rahmen ist das sogenannte gouvernementale Prinzip der „Führung der Führung“. So sollen besipielsweise Verbrecher (egal wie pathologisch) im liberalen System durch möglichst hohe „negative Anreize“ (Strafen) dazu gebracht werden, vor Verbrechen zurrückzuschrecken, wobei immer zugleich bedacht werden muss, dass der Aufwand des Strafens und Überwachens nicht unökonomisch werden darf. Es geht also um eine permanente Berechnung des Grenznutzens auf allen Seiten der gesellschaftlichen Teilnehmer am Machtspiel. ((Vgl. Foucault, Michel 2005: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 343-359.))

In diesem Paradigma, das oftmals als purer Sozialdarwinismus kritisiert wird, ist jeder wieder ’seines eigenen Glückes Schmied‘ oder aber ’selbst Schuld‘, der Staat oder das politische System ist jedenfalls nicht verantwortlich. Der politische Körper des Leviathans wird zunächt verschlankt, ((Vgl. Fach, Wolfgang: Staatskörperkultur 2000. Ein Traktat über den schlanken Staat. In: Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne; Lemke, Thomas (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 110 -130.)) und schließlich aufgelöst, bis sich alle Menschen ohne ’normatives Regelwerk‘ einander gegenüberstehen und frei sind sich in „communities“ zu engagieren. ((Vgl. Kreissl, Reinhard: Community. In: Bröckling, Ulrich; Susanne Krassmann; Lemke, Thomas (Hrsg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.)) Die soziale Verantwortung, die der Staat aus Kostengründen nicht mehr tragen will, wird in die Subjekte selbst transferiert. Diese sollen Verantwortung gegenüber sich selbst und ihrer community übernehmen. Die Form der community ist kontingent, sie kann eine Familie, eine Versicherung, eine Abstammungsgemeinschaft oder eine „gated commuity“ (eine von privaten Sicherheitsdiensten bewachte Siedlung) sein. Alle Formen sollen mehr oder weniger marktwirtschaftlich agieren. Es werden also durchaus Anreize zur Bildung von marktwirtschaftlichen Knotenpunkten gesetzt, die Teilgesellschaften regieren, aber der Staat als Meta-Instanz ist in der Regierungsmentalität des Neoliberalismus nicht erwünscht. Der Staat ist heute ideologisch das Schmuddelkind, das höchstens noch zum Nachtwächterstaat taugt und das obwohl seine faktische Macht bis heute weit hinein in den Körper – bis tief in unsere Pupille – hineinreicht.

Bisher wurde deutlich, dass die Gouvernementalität der Gegenwart, trotz ihres selbsterwählten Anspruchs ‚alles so einzurichten, dass ein jeder frei ist‘, ((Vgl. Foucault, Michel 2005: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 97.)) in Ambivalenzen schillert. Zusammenfassend gilt es daher zu erläutern, wo die konkreten Probleme und inhärenten Gefahren der Gouvernementalität der Gegenwart liegen könnten.

Trotz aller wissenschaftlicher sozialtechnischer Vermessung besteht die Schwierigkeit, dass die unmittelbare Präferenz des wählenden Wesens Homo oeconomicus immer erst im Nachhinein mit Sicherheit festgestellt werden kann. Problematisch ist auch der von der Regierung vorgegebene Handlungsrahmen, der außerhalb des postulierten Spektrums stehende Alternativen aus dem Sichtbarkeitsfeld verschwinden lässt. Emanzipatorisch oder revolutionär wäre hier ein Aufschiebendes „Ich möchte lieber nicht“ Herman Melvilles Bartleby, oder eine Zurückweisung von vorgegebenen Alternativen, die – insofern sie akzeptiert werden – den Wählenden als einen Homo oeconomicus ausweisen. Jede Wahl ist hier ein Bekenntnis.

Zudem ist fraglich, ob ein liberaler Regierungskomplex, der eine Symbiose mit einer ’sozialwissenschaftlich – statistisch – kommerziellen Feedbackmaschine‘ eingegangen ist, den Rahmen der Handlungsmöglichkeiten immer stärker verengt, oder besser immer enger auf die Regierten zuschneidet, bis er sie zur Bewegungslosigkeit verdammt. Gouvernementalität scheint aus ihrer Eigenlogik heraus zu einer ’sachgerechten‘ Verwaltungslogik über die Dinge zum Zwecke der „Freiheit“ zu verkommen. Der angebliche Scheinwiderspruch gouvernementaler Vernunft scheint beim Wiederspruch des erdrückenden ‚Imperativs zur Freiheit‘ stehenzubleiben, „bis wir alle immer tun müssen, was wir wollen“. ((Bröckling, Ulrich: „Wir müssen immer tun, was wir wollen!“, Vortrag gehalten am 24.03.2010 auf der Tagung: „Vom Zwang zur Freiheit, Zur Unterscheidbarkeit von Freiheit und Zwang: Freisetzung und Vergesellschaftung des Subjekts von der Aufklärung bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts”, Ein Kolloquium des Exzellenznetzwerks „Aufklärung – Religion – Wissen“, des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) und des Forschungszentrums „Laboratorium Aufklärung“.)) Und falls doch etwas gewollt wird, was weniger rational erscheint als das, was nach statistischem Kalkül die Mitte der Gesellschaft eigentlich wollen müsste, so haben die Abweichler auch die Konsequenzen für ihre tendentiell pathologischen Wünsche zu tragen. Raucher werden beispielsweise aus Solidaritätsgemeinschaften wie Versicherungen herausgedrängt oder müssen, je nach individualisiertem Risiko, höhere Beiträge leisten.

Ein anderes Beispiel, das uns das ‚Paradox der erzwungenen Wahl‘ ((Zizek, Slavoj 1991: Liebe dein Symptom wie dich selbst!, Merve Verlag: Berlin. S. 121-123.)) vor Augen führt: So kann sich der als pathologisch behandelte Hartz-IV-Empfänger zwar offiziell entscheiden, eine ihm angebotene Fortbildungsmaßnahme von möglicherweise zweifelhaftem Nutzen anzutreten. Faktisch aber kann er diese nicht ablehnen, da ihm sonst seine Sozialbezüge gekürzt werden. Zumindest in diesem Beispiel besteht somit der Verdacht, dass das gouvernementale Programm seinen eigenen Anspruch ‚Freiheit zu ermöglichen‘ ins Gegenteil verkehrt hat. Wo eine gouvernementale Regierungskunst sich vornahm, durch die Setzung von Rahmen ’sanft zu führen‘, läuft sie gegenwärtig Gefahr, diese Rahmen der Handlungsmöglichkeiten so zu verengen, dass nichts als ein ideologischer Anspruch eines freien Feldes der Möglichkeiten übrig bleibt.

Die Frage, die heute im Raum steht und die innerhalb der sogenannten „Gouvernmentality Studies“ diskutiert werden sollte, ist die Frage danach ob ein in seiner Tendenz scheinbar technokratisches kalkulierendes ‚gouvernementales‘ Regime, das bis auf kleinste Ebenen mit Anreizsetzungen regiert und stets darauf bedacht ist Risiken (aber auch Kosten) zu vermeiden, überhaupt noch Spielraum lässt für Politik im Sinne gesellschaftlicher Entscheidungen. Wo die Gouvernementalität Freiheit ermöglichen sollte, läuft sie Gefahr zu einem quasi ‚gouvernemen-totalitären‘ Überwachungssystem zu werden, das seinem Objekt nur die Freiheit zwischen zwei Alternativen lässt: sich ‚richtig‘ oder sich ‚falsch‘ zu entscheiden.

Um das einführende Zitat zu wiederholen, bleibt an dieser Stelle nur mit Foucault zu sagen: „Politik ist nicht mehr und nicht weniger als das, was mit dem Widerstand gegen die Gouvernementalität entsteht, die erst Erhebung, die erste Konfrontation.“ ((Foucault, Michel 2005: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 486.))

Dennoch kann dies aber nicht heißen, die Gouvernementalität als Regierungsprogramm zu verdammen, vielmehr muss es darum gehen, sie durch konstruktive Kritik vom falschen Kurs einer Verengung auf liberale Freiheiten und das Menschenbild des Homo oeconomicus abzubringen und sie auch auf die Realisierung sozialer Freiheiten hinzuwenden. Es geht also darum, durch Kritik zu politisieren und das Bewusstsein dafür zu wahren, dass alles politisierbar ist. Wenn dies gelingt, kann die Gouvernementalität als Regierungskunst tatsächlich zu einer „singulären Allgemeingültigkeit“ werden, die Gesellschaft herstellt, anstatt sie in kalkulierenden Individuen aufzulösen. ((Foucault, Michel 2005: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 482.))


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