Sündenbock Jugendamt?! – Ein Kommentar

Am vergangenen Samstag starb im oberpfälzischen Tischenreuth ein zweijähriges Mädchen in der Obhut ihrer allein erziehenden Mutter. Die kleine Lea litt an verschiedenen Krankheiten und hatte wahrscheinlich deshalb die Nahrung verweigert. Ein Arztbesuch hätte sie retten können, ihre Mutter ergriff jedoch nicht die Initiative. Das Mädchen verhungerte. Die 21-jährige Frau wurde festgenommen und ein Verfahren wegen Totschlags durch Unterlassen gegen sie eingeleitet.

Fälle von Kindstötungen und Vernachlässigungen mit Todesfolge traten in der Vergangenheit immer wieder auf. Sie lösen in der Öffentlichkeit emotional stark aufgeladene Diskussionen über die möglichen Gründe und wie sie zu verhindern gewesen wären aus. Dabei geraten vor allem die unterstützenden Hilfesysteme für so genannte „Problemfamilien“ oder „Risikoeltern“ in den Fokus der Kritik. Stimmen werden laut: Warum werden diese Familien nicht mehr kontrolliert? Wer ist schlussendlich verantwortlich für den Tod von Kindern wie Lea? Die Schuldigen scheinen schnell ausgemacht zu sein: eine zu junge, überforderte Mutter; Jugendamtsmitarbeiter, die den Aufforderungen einer Nachbarin nicht nachkamen, die Familienverhältnisse im Hinblick auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung zu klären. Und obwohl das zuständige Jugendamt mittlerweile Versäumnisse und somit eine Mitverantwortung am Tod des Mädchens eingeräumt hat, kratzen die Erklärungsversuche nur an der Oberfläche eines tiefer liegenden Problems – in der Regel sind die Hintergründe dieser tragischen Fälle von Kindesvernachlässigungen komplexer und müssen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden.

Das Problem wurzelt zum einen in einem grundsätzlichen Dilemma des deutschen Wohlfahrtstaates, der die Verantwortung für das Wohlergehen und die Fürsorge seiner Bürger und Bürgerinnen übernehmen will und gleichzeitig deren Integrität wahren muss. Der Staat schafft Strukturen, die gewährleisten sollen, dass Familien, die Hilfe bei der Versorgung und Erziehung ihrer Kinder brauchen, diese auch erhalten, so dass mögliche Kindeswohlgefährdungen ausgeschlossen sind. Das Dilemma entfaltet sich in den folgenden Fragestellungen: Wann wird Unterstützung zu bloßer Kontrolle durch staatliche Institutionen und wie viel davon kann man Familien zumuten? Wann ist ein Eingreifen durch Behörden legitim und wann stellt es eine Verletzung der individuellen Grundrechte dar? Sollte man pauschal alle Eltern kontrollieren (man denke an so überzogene Forderungen wie die Einführung eines „Führerscheins“ für Eltern)? Oder gibt es tatsächlich klar definierbare (ergo für jeden identifizierbare) Risikoeltern, bei denen Kinder per se in Gefahr sind und die besondere Betreuung, aber eben auch ein starkes Maß an Kontrolle erfahren sollten?

Der Staat respektive seine Institutionen respektive Menschen (!), die ja zu guter Letzt die staatlichen Vorgaben und Regelungen umzusetzen suchen, betreten einen schmalen Grat. Sie laufen stets Gefahr, bereits stigmatisierte Personengruppen zusätzlich zu stigmatisieren und so deren soziale Ungleichbehandlung zu untermauern. Ein „Paradebeispiel“ bildet die Gruppe der geistig beeinträchtigten Menschen – ihnen wird per se die Fähigkeit, Kinder zu erziehen, abgesprochen.[1] Aber auch arme Menschen oder Personen mit psychischen oder chronischen Krankheiten geraten schnell unter den argwöhnenden Blick von Behörden. Schlussendlich müssen jedoch Menschen über Menschen Urteile fällen, Lebensweisen und Kompetenzen bewerten, für die es keine genauen Maßstäbe gibt, Entscheidungen für andere treffen und Verantwortungen übernehmen. Und Menschen sind fehlbar – das ist keine Entschuldigung für ein Versagen mit fatalen Konsequenzen, auch möchte ich in meinen Ausführungen keine Lanze für das Vorgehen oder Nicht-Vorgehen von Jugendämtern brechen, denn die Situationen innerhalb dieser Institutionen sind häufig desolat.[2] Aber ich bin für einen differenzierteren Blick. Viele Faktoren spielen eine Rolle, wenn Eltern(teile) ihre Kinder vernachlässigen: unzureichende soziale Unterstützungsnetzwerke, materielle Armut oder psycho-soziale Belastungen (z.B. keine positive elterliche Autorität und/oder innerfamiliäre Gewalt im eigenen Elternhaus) sind nur einige davon.

Es steht mir nicht zu, Mutmaßungen darüber anzustellen, warum Leas Mutter sie nicht ärztlich versorgen lassen hat oder warum die zuständige Jugendamtsmitarbeiterin sich gegen einen Besuch bei der Familie entschied. Der Fall erinnert unsere Gesellschaft auf traurige Weise daran, dass die existierenden staatlichen Strukturen nicht ausreichen, um alle Kinder zu schützen, aber die Etablierung eines omni-präsenten „Kontrollorgans Jugendamt“ kann keine Lösung sein. Alternativen müssen den konventionellen Vorgehensmustern und Institutionen entgegengestellt werden oder sie zumindest ergänzen. Statt das Pferd von hinten aufzusatteln, indem man Familien „begutachtet“, die bereits auffällig sind, sollten junge Menschen, also die potenziellen Mütter und Väter der Zukunft, stark gemacht werden, damit sie ihre Kinder ausreichend versorgen können oder zumindest wissen, wo sie (jederzeit) Unterstützung bekommen können. Kinder zu schützen ist nicht die Aufgabe einer einzelnen Institution, sondern die der gesamten Gesellschaft. Im Fall von Leas Mutter hat sie versagt.


[1] In Untersuchungen von Gerichtsakten zu Sorgerechtsfällen in Australien und Großbritannien, in denen über eine Fremdplatzierung des Kindes entschieden wurde, fand man eine offensichtliche Ungleichbehandlung von Eltern mit geistiger Behinderung heraus (McConnell et al. 2000; Booth et al. 2005). Die Ergebnisse zeigten, dass die Kinder mit geistig behinderten Eltern in der Regel schneller, aufgrund geringfügiger Ursachen und für einen längeren Zeitraum aus den Familien genommen wurden, als dies bei Familien ohne geistig behindertes Elternteil der Fall war. Es ist davon auszugehen, dass auch in Deutschland so geurteilt wurde.

[2] In meiner Forschung zu Elternschaften von Menschen mit geistiger Behinderung habe ich selbst Vorfälle von behördlicher Willkür beobachtet, die für die betroffenen Familienmitglieder sehr traumatisch waren.

Ein Kommentar

  1. Ein guter Artikel! Hat mich sehr berührt, nicht nur der tragische Tod sondern vor allem, dass es für einen solchen Vorfall keine einfache Lösung gibt. Soll, darf man der Mutter einen Vorwurf machen oder ihren Eltern, deren Eltern, den Institutionen? Und was bringt Schuldzuweisung wenn man es nicht ändern kann? Was kann man überhaupt tun? „Problem-“ oder Risikofamilien“ die Kinder wegzunehmen wäre ungerecht und grausam, für ALLE Beteiligten. Eine Besserung können wir nur erreichen, wenn Menschen wieder zu Mit-Menschen werden, aufeinander hören und helfen statt bloß Versagen zu „petzen“. Ein Sozialstaat sollte mehr sein als nur Steuern in die Sozialversicherung zu bezahlen.

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